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Kapital: Roman (German Edition)

Kapital: Roman (German Edition)

Titel: Kapital: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Lanchaster
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haben.
    Eine Gruppe von schwarzen Jugendlichen kam auf den Bahnsteig. Zbigniew hatte nichts gegen Schwarze, aber nach drei Jahren in England war er noch immer nicht an dem Punkt angelangt, an dem ihm ihre Anwesenheit nicht mehr auffiel. Er versuchte jedes Mal einzuschätzen, ob sie zu der Sorte gehörten, die Unruhe stiften würde. Diese Jugendlichen hier, sieben oder acht Jungen und Mädchen, machten viel Krach – die Mädchen mehr als die Jungen, als müssten sie sich etwas beweisen. Das schien in diesem Land öfter vorzukommen. Sie zogen sich alle gegenseitig wegen irgendetwas auf.
    »Du hast doch nie im Leben …«
    »Er hat bestimmt nicht …«
    »Du Idiot …«
    Aber Zbigniew konnte sehen, dass diese Jugendlichen zwar viel Lärm machten, aber eigentlich vollkommen harmlos waren. Die alte Dame neben ihm, die bereits auf dem Bahnsteig gewartet hatte, als er dort ankam, war ganz offensichtlich nicht sehr glücklich. Sie dachte wohl an die bevorstehende Bahnfahrt mit diesenschreienden Kindern. Und sie fragte sich wahrscheinlich auch, ob sie weiter den Bahnsteig runtergehen konnte, ohne schrecklich unhöflich zu wirken. Sie würde nicht wollen, dass man sie für eine Rassistin hielt. Zbigniew wusste, dass das in diesem Land eine große Sache war. Keiner wollte als Rassist gelten. Er fand, dass die Leute viel zu viel Wirbel darum machten. Menschen mochten eben andere Menschen nicht, die nicht so waren wie sie selbst, das war eine unumstößliche Tatsache. Man musste sich damit abfinden. Was machte es schon, wenn die Leute einander nicht mochten wegen ihrer Hautfarbe?
    Die U-Bahn in Richtung Morden Station fuhr ein. Die lautstarken Jugendlichen stiegen zuerst ein und drängelten sich dabei an den Leuten vorbei, die versuchten auszusteigen. Es gab keine Sitzplätze. Die Jugendlichen gingen ans andere Ende des Abteils, und einige von ihnen setzten sich. Die anderen stellten sich daneben, und alle redeten, brüllten und demonstrierten, was für eine wahnsinnig gute Laune sie hatten. Die meisten Leute in der Bahn ignorierten sie einfach. Das war noch so eine Sache, die London und Warschau gemeinsam hatten: die Art und Weise, wie die Menschen sich im öffentlichen Verkehr abkapselten und sich in sich selbst zurückzogen.
    In Balham stieg Zbigniew aus und ging zum Bahnhof. Ein Wunder – am Gleis stand ein Zug, der im Begriff war abzufahren. Er stieg ein. Es gab keine Sitzplätze, aber das machte nichts. Alle Menschen im Zug waren auf dem Nachhauseweg von der Arbeit und hatten sich in ihre Zeitungen oder in sich selbst vergraben. Zbigniew lehnte sich an die Trennwand und ließ sich von dem dahinrasenden Zug hin- und herschaukeln und ordentlich durchrütteln. Das Abteil war überhitzt, überfüllt und wahnsinnig ungemütlich. Aber auch das machte nichts. Die Menschen hier beschwerten sich andauernd über den öffentlichen Verkehr, aber seiner Ansicht nach sollten sie einfach den Mund halten. Ja, der Verkehr war scheiße, aber im Leben gab es viele Dinge, die scheiße waren. Nichts davon wurde besser, wenn man sich darüber beschwerte.Sie sollten mal eine Weile an einem Ort leben, wo das Leben wirklich hart war. Dann würden sie schon eine Ahnung davon bekommen, worauf es letztendlich ankam.
    Bei diesem Thema musste Zbigniew an seinen Vater denken. Michal Tomaschewski. Er war Automechaniker. Dreißig Jahre lang hatte er Busse für die Stadt Warschau repariert: ehrliche und harte Arbeit. Mit fünfzig war er zu jung, um von der Zukunft noch großartige Überraschungen zu erwarten, und bei weitem nicht alt genug, um sich zur Ruhe zu setzen. Aber dank Zbigniew gab es die ersten Ansätze eines Plans. Michal hatte während der letzten dreißig Jahre noch eine Art Zweitjob gehabt: Er hatte sich um die Aufzüge in ihrem Wohnblock gekümmert. Nicht gerade jeden Tag, aber mindestens einmal in der Woche war er damit beschäftigt, irgendetwas an einer der drei kleinen Metallkabinen zu reparieren, die für jeden im Wohnblock lebenswichtig waren. Das galt besonders für die, die in den oberen Stockwerken wohnten und deren Familien sehr alte oder sehr junge Mitglieder hatten. Die Nachricht von seiner Sachkenntnis auf diesem Gebiet – und was genauso wichtig und womöglich noch viel seltener war, von seiner Bereitschaft, sich auch um die Dinge zu kümmern – hatte sich schnell herumgesprochen, und Freunde aus anderen Wohnblocks hatten ihn ebenfalls hin und wieder um Hilfe gebeten. Aber jeder Tag hatte nur eine begrenzte Anzahl von

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