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Kapital: Roman (German Edition)

Kapital: Roman (German Edition)

Titel: Kapital: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Lanchaster
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Stunden, und Michal war in seinem sechsten Lebensjahrzehnt, und obwohl er durchaus bereit war, den Leuten zu helfen, war er auch kein Dummkopf. Deswegen tat er das, was er konnte, und mehr nicht.
    Zbigniews Plan sah folgendermaßen aus: Er wollte in London genug Geld verdienen, um dann mit seinem Vater zusammen eine Firma zur Wartung von Aufzugsanlagen zu gründen. Warschau würde in den nächsten Jahren rapide wachsen, das wusste jeder, und heutzutage wuchsen die Städte nach oben. Das bedeutete, dass man viele Aufzüge bauen würde, die – wie sein Vater gerne sagte – »das sicherste mechanische Fortbewegungsmittel in der ganzen Welt« waren. Mit ein wenig Kapital könnten sie ihre eigeneFirma aufmachen. Sein Vater würde weniger arbeiten müssen und das Zehnfache verdienen, und in ein paar Jahren könnte er sich dann ganz komfortabel zur Ruhe setzen, oder zumindest teilweise. Er könnte irgendwo ein kleines Häuschen kaufen, ein bisschen Gartenarbeit machen, in Pantoffeln durch die Gegend schlurfen, und an warmen Tagen könnte er auf der Terrasse mit Zbigniews Mutter zu Mittag essen. Sein Vater beschwerte sich nie – jedenfalls hatte Zbigniew nie gehört, dass er sich ein einziges Mal über irgendetwas beklagt hätte –, aber er wusste, dass sein Vater es liebte, aus Warschau rauszukommen und seinen Bruder in Brochow zu besuchen, weil er dann draußen auf dem Land sein konnte. Er liebte die Luft dort und die Weite und die Tatsache, dass man Tiere und Bauernhöfe sehen konnte, und nicht Autos, Lastwagen und Busse. Also würde er seinem Vater die Gelegenheit verschaffen, all das zu genießen. Statt das überzählige Geld, das er verdiente, nach Hause zu schicken, sparte er es. Es war ungefähr die Hälfte seines Einkommens, und er hob es für den großen Freudentag auf, an dem er ohne Vorwarnung zu seinen Eltern nach Hause kommen, ihnen seine Neuigkeiten erzählen und von seinem Plan berichten würde. Diesen Moment stellte er sich sehr oft vor.
    Der Zug hielt in South Croydon, und Zbigniew stieg aus. Der nächste Teil seiner Fahrt ging mit dem M-Bus, ungefähr zwei Kilometer, und dann musste er noch eine Strecke zu Fuß laufen. Dann würde er die Kielbasa braten und ein paar Runden Karten mit seinen Mitbewohnern spielen – je nachdem, wer gerade da war. Oder falls alle ausgegangen waren, könnte er vielleicht mit der PlayStation 2 spielen und ein paar Missionen von San Andreas lösen. Einige würden in die Kneipe gehen wollen, aber das war so furchtbar teuer, dass es Zbigniew sich höchstens ein Mal in der Woche erlaubte, und dann auch nur in einer der Bars, die eine Happy Hour hatten und zwei Getränke für den Preis von einem anboten. »Happy Hour« – der Begriff brachte ihn immer zum Lachen. Es waren auch immer ein paar Mädels da. Seine letzte Freundinhatte er in einer Bar namens Shooters kennengelernt, während der Happy Hour. Sie hatte mit ihm Schluss gemacht, nachdem sie sich darüber beschwert hatte, dass er nie ausgehen oder etwas unternehmen wollte. Zbigniew fand das immer noch unfair. Er hatte nie irgendwohin gehen oder etwas unternehmen wollen, das Geld kostete – das war ein wichtiger Unterschied.
    Heute standen die Sterne günstig, oder sein Schutzheiliger war ihm gnädig oder so etwas in der Art, denn der Bus kam sofort. Er stieg ein und fand in der Mitte einen Sitzplatz neben einem Mädchen, das etwas auf seinem iPod hörte und lächelnd und mit geschlossenen Augen im Takt nickte. Das war der Teil der Heimfahrt, den Zbigniew am wenigsten mochte. Obwohl Zugfahren frustrierend sein konnte, fuhren die Züge wenigstens meistens weiter, wenn man einmal eingestiegen war. Der Bus hingegen war vollkommen unberechenbar. Manchmal war Zbigniew in zwei Minuten zu Hause, manchmal saß er auch eine halbe Stunde später noch am selben Ort. An manchen Tagen ging es schneller, zu Fuß nach Hause zu laufen. So nah am Ziel stellte er sich immer all die Dinge vor, die er zu Hause tun würde – sich hinsetzen, die Beine ausstrecken, sich unter die Dusche stellen oder so was in der Art. Heute hätte er sich einen Lottoschein kaufen sollen, denn der Bus schoss durch den Verkehr wie ein Fisch flussabwärts. Bevor noch die kleine Miss iPod ihre Augen geöffnet hatte, hatte er schon für seine Bushaltestelle auf den Knopf gedrückt.
    Der letzte Teil der Reise, den er zu Fuß zurücklegte, dauerte ungefähr zehn Minuten. Viele der Häuser hatten Weihnachtsschmuck in den Fenstern und Kränze an den Türen. Zbigniew

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