Kapital: Roman (German Edition)
Kilometern in die Provinz geschleift hatte. Aber das hatte nur ungefähr zehn Sekunden gedauert. Dann überkam ihn allmählich das vage Gefühl, dass er da keineswegs das sah, was er zunächst zusehen geglaubt hatte, sondern etwas ganz anderes. Und schließlich war er sich sicher, dass er heute – nach zwanzig Jahren Talentsuche, in denen er zwei oder drei oder fünf Spiele die Woche gesehen und vielleicht einen einzigen Spieler im Jahr entdeckt hatte, der professionell Fußball spielen würde –, dass er also heute ein echtes Genie vor Augen hatte, ein Talent von absolut internationalem Format. Freddy Kamo: Der Tag würde kommen, an dem jeder Mensch in der Welt, der auch nur das geringste Interesse am Fußball hatte – was für Milliarden von Leuten galt –, diesen Namen kennen würde.
Nach dem Spiel hatte sich der Scout mit zahllosen Handy-Anrufen fast selbst in den Bankrott getrieben. Er hatte versucht, seinen wichtigsten Kontakt zu erreichen, den Mann, der die Talentsuche bei Arsenal leitete und Arsène Wenger persönlich Bericht erstattete. Dann stellte er sich dem Jungen vor, um die Lage zu sondieren und herauszukriegen, ob er der Einzige war, der bisher seine Fühler ausgestreckt hatte. Dabei erfuhr er zwei Dinge: erstens, dass er keineswegs der Einzige war – zwei oder drei seiner Konkurrenten hatten Freddy bereits angesprochen, um über Vertragsbedingungen zu verhandeln; und zweitens, dass Freddy, der außerhalb des Spielfeldes sehr gelassen und entspannt wirkte, gar nicht die richtige Ansprechperson war, sondern vielmehr sein Vater, ein würdevoller, todernster, streng wirkender Polizist um die vierzig. Patrick Kamo, der fließend Französisch sprach, wollte nicht, dass Freddy jetzt schon einen Vertrag unterschrieb, fand, dass er zu jung dafür sei und noch eine Weile zu Hause bei seinem Vater und seinen drei Halbschwestern bleiben sollte. Die Verhandlungen dauerten Monate. Der Club überzeugte Patrick schließlich mit dem Zugeständnis, dass Freddy im Senegal aufwachsen sollte, bis er sich bereit fühlte, seine Heimat zu verlassen. Andere Interessenten wollten, dass er sofort nach Europa zog. Das gab den Ausschlag für Arsenal. Die Verhandlungen endeten mit der Übereinkunft, dass man Freddy einen Vorschuss zahlen würde, bis er siebzehn war, und dass er dann nach London ziehenwürde. Der Scout war gerade im Begriff, zur Vertragsunterzeichnung zu schreiten, als ein noch reicherer Club ins Spiel kam – denn Freddy Kamo war in der Zwischenzeit zu dem schlechtestgehüteten Geheimnis der Fußballwelt geworden – und ihm genau das gleiche Angebot machte, nur dass dieser Club bereit war, mehr als doppelt so viel Geld zu zahlen. In diesem Augenblick wurde das, was zu dem größten Triumph im Berufsleben des Scouts hätte werden sollen, zu der größten Enttäuschung, die ihm je widerfahren war. Freddy unterschrieb bei dem anderen Verein.
Und nun war Freddy Kamo siebzehn und im Begriff, nach London zu kommen – genauer gesagt in die Pepys Road 27. Sein Vater hatte das Haus aus drei Wohnungsangeboten herausgesucht, die der Club, oder genauer gesagt, Mickey Lipton-Miller ihnen gemacht hatte. Patrick glaubte, dass es Freddy besser gefallen würde, in der Stadt zu wohnen als auf dem Land, und dass es dort mehr Schwarze geben würde. Er dachte, ihre Hautfarbe könnte in England möglicherweise zum Problem werden. Der Club hatte die beiden Kamos bereits vor drei Monaten kurz ins Land geholt, damit sie sich ein wenig umschauen und einen Eindruck von den Örtlichkeiten gewinnen konnten. Es war das erste Mal für Vater und Sohn gewesen, dass sie den Senegal verlassen hatten, das erste Mal, dass sie in einem Flugzeug gesessen hatten, und noch zahllose andere erste Male – ihr erstes Mal in einem Aufzug, in einem Restaurant, in einem Taxi oder in einem Hotel. Patrick war von all dem vollkommen überwältigt gewesen, wollte aber auf keinen Fall, dass sein Sohn das merkte. Also hatte er während der gesamten Reise seine unbewegte Polizistenmiene aufgesetzt. Freddy hatte die ganze Zeit gelächelt und seine gute Laune bewahrt, während all diese außergewöhnlichen Eindrücke und Erlebnisse auf ihn einstürzten – die riesigen Dimensionen, der Lärm, der Reichtum, die Besprechungen, die ärztlichen Untersuchungen und die vielen, vielen Leute. Und Patrick wollte seine eigenen Ängste nicht dadurch zu erkennen geben, dass er seinen Sohn zu oft fragte, wie er sich gerade fühlte. Das Ergebnis war, dass er jetzt,da sie
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