Kapital: Roman (German Edition)
nach Hause zu reisen. Er hatte bereits einen Ryanair-Flug für 99 Pence plus Steuern gebucht. Seine Mutter konnte ihn dann nach Strich und Faden verwöhnen, und sein Vater würde sich ein oder zwei Tage freinehmen. Er freute sich darauf, wieder zu Hause zu sein. Seit Frühling letzten Jahres war er nicht mehr in Warschau gewesen. Er würde ein paar Freunde treffen und ein paar Kinder auf den Knien schaukeln und davon träumen, wie er später einmal als reicher Mann heimkehren würde.
»Die da«, sagte Piotr. Es gab kein polnisches Bier im Pub, deswegen tranken sie Budweiser – in ihren Augen das einzig Gute, das die ehemalige Tschechoslowakei je hervorgebracht hatte.
»Die Blonde? Zu klein. Die ist doch fast ein Zwerg.«
»Nein, nicht die Blonde. Die daneben. Mit den dunklen Haaren. Ich habe mich verliebt!«
»Du bist immer verliebt.«
»Die Liebe bewirkt, dass sich die Erde um die Sonne dreht.«
»Nein, das ist die Schwerkraft«, sagte Zbigniew. Diese Diskussion hatten sie schon sehr oft gehabt, und sie hörten einander kaum noch zu. Es brauchte nicht viel, damit Piotr scharf auf jemanden war, und er setzte das Begehren dann regelmäßig mit dem Verliebtsein gleich. Er verguckte sich in ein Mädchen, ging hin und verwickelte sie in ein Gespräch, verliebte sich heftig, hatte eine leidenschaftliche Affäre mit ihr, in der es wild auf und ab ging, durchlebte ein unglaubliches Hoch, wie es nur wenigen Sterblichen zuteilwurde, ließ sich das Herz brechen, überstand eine tiefe, bittere Depression und kam dann wieder zu sich, nur um auf die nächste Begegnung zu warten – und das alles in ungefähr fünfundvierzig Minuten. Wenn er dann tatsächlich mit einem Mädchen ausging, war der Kreislauf genau der gleiche, nur über einen längeren Zeitraum gestreckt. Im Augenblick war Piotrs Leben ganz frei von Liebesverhältnissen, weswegen es wirklich ziemlich großzügig von Zbigniew war, mit ihm in den Pub zu gehen, denn es geschah an einem solchen Abend unweigerlich, dass Piotr sich mindestens zwei Mal verliebte und Zbigniew dann den Zuhörer spielen musste. Und Piotr war keineswegs schüchtern. Wenn er ein Mädchen sah, das ihm gefiel, dann fragte er sie immer, ob sie mit ihm ausgehen würde, direkt beim ersten Gespräch. Und dabei war es nicht etwa so, als würde ihm eine Zurückweisung nichts ausmachen. Er hasste es, zurückgewiesen zu werden. Aber er erholte sich auch immer ziemlich schnell davon.
Zbigniew war da ganz anders. Frauen waren für ihn eine rein praktische Angelegenheit, oder besser gesagt, ein ganz reales Problem.Und wie alle anderen Probleme löste man auch dieses Problem am besten mit einem absolut methodischen und pragmatischen Ansatz. Zbigniew hatte nicht nur Regeln, er hatte Maximen. Er lief einem Mädchen erst dann hinterher, wenn er einen berechtigten Grund hatte anzunehmen, dass sie sich ohnehin schon für ihn interessierte. Er war noch nie verliebt gewesen. Er behauptete, nicht an Liebe zu glauben. Seine Philosophie baute auf der Überzeugung auf, dass man nur sauber gewaschen, einigermaßen solvent und nicht gerade hässlich sein brauchte, und schon gehörte man zu den oberen 30 Prozent aller Männer. Wenn man darüber hinaus den Frauen noch zuhörte, wenn sie mit einem redeten, oder zumindest in der Lage war, auf überzeugende Weise so zu tun als ob, dann befand man sich bereits unter den oberen 10 oder sogar 5 Prozent. Dann musste man nur noch seinen gesunden Menschenverstand benutzen: Wirke auf keinen Fall so, als suchtest du verzweifelt eine Freundin, betrinke dich nicht, sieh zu, dass das Mädchen sich betrinkt, und lerne, wie man die feine Kunst des SMS-Textens am gewinnbringendsten einsetzt. Darüber hinaus gab es noch ein paar andere Sachen, wie zum Beispiel, dass es ratsamer war, unter der Woche auszugehen, weil es dann weniger Konkurrenz gab. Man musste einfach nur seinen Prozentsatz verbessern.
Ein Mann in einem langen schwarzen Mantel kam in den Pub, schaute sich um und ging zu dem Mädchen mit den dunklen Haaren hinüber, in das Piotr sich eben erst verguckt hatte. Sie küssten sich, während das Mädchen die Hände besitzergreifend auf den Hintern des Mannes legte.
»Das ist das Ende. Mein Leben ist vorbei«, sagte Piotr und trank sein Bier aus.
»Nicht unbedingt«, sagte Zbigniew. Auf der anderen Seite des Kamins, der nicht mehr benutzt wurde, standen zwei junge Frauen und schauten sich im Raum um. Sie hielten riesige Weingläser in den Händen und warfen alle paar
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