Karibische Affaire
wohl, ich spreche selbst mit dem Mädchen«, meinte Dr. Graham.
Es bereitete Victoria sichtliches Vergnügen, ihre Geschichte erzählen zu dürfen.
»Ich möchte da in keine Schwierigkeiten kommen«, sagte sie.
»Ich hab’ die Flasche bestimmt nicht hingestellt, und ich weiß auch nicht, wer’s getan hat.«
»Aber Sie glauben, dass sie hingestellt wurde?«, fragte Dr. Graham.
»Ja – wenn sie vorher nicht dort war, muss sie wohl hingestellt worden sein!«
»Hätte Major Palgrave sie nicht in einer Lade oder in einem Handkoffer aufbewahren können?«
Victoria schüttelte mit schlauer Miene den Kopf.
»Warum denn? Wo er doch die Pillen die ganze Zeit nehmen musste?«
»Tja«, sagte Dr. Graham widerstrebend, »nehmen musste er sie mehrmals täglich. Und Sie haben nie gesehen, dass er so etwas eingenommen hat?«
»Er hat das Fläschchen vorher nie dort gehabt! Und weil man sich erzählt, dass das Zeug etwas mit seinem Tod zu tun haben soll, hab’ ich geglaubt, dass es vielleicht jemand, der ihn umbringen wollte, hingestellt hat.«
»Das ist Unsinn, Victoria«, sagte der Doktor grob. »Barer Unsinn!«
Victoria sah ganz perplex aus.
»Sie behaupten, das Zeug war Medizin, gute Medizin?«, fragte sie voll Zweifel.
»Jawohl, gute Medizin, und, was noch mehr ist, notwendige Medizin«; sagte Dr. Graham. »Sie brauchen sich also keinerlei Sorgen zu machen. Ich versichere Ihnen, mit dieser Medizin war alles in Ordnung. Für einen Mann mit diesem Leiden war sie genau das Richtige.«
»Da haben Sie mir aber einen Stein vom Herzen genommen!«, sagte Victoria, indem sie Dr. Graham mit ihren weißen Zähnen strahlend anlächelte.
Aber von Dr. Grahams Herz war kein Stein genommen. Seine am Morgen noch so vage Unruhe begann nun Gestalt anzunehmen.
8
» H ier ist es auch nicht mehr wie früher«, sagte Mr Rafiel giftig, als er der näher kommenden Miss Marple ansichtig wurde. »Auf Schritt und Tritt stolpert man über diese alten Gluckhennen. Was haben so alte Weiber nur in Westindien verloren?«
»Was schlagen Sie sonst vor?«, fragte Esther Walters.
»Cheltenham«, schnappte Mr Rafiel, »oder Bournemouth, oder Torquay, oder Llandridod Wells. Auswahl genug! Das mögen Sie – dort ist ihnen wohl!«
»Mein Gott, wie oft kann so eine alte Dame sich schon Westindien leisten!«, sagte Esther. »Es geht nicht jedem so gut wie Ihnen.«
»Stimmt«, sagte Mr Rafiel. »Reiben Sie mir es nur unter die Nase, schwach und krank, wie ich bin! Da, ich geh’ schon bald aus dem Leim, und Sie missgönnen mir jede Erleichterung! Und arbeiten tun Sie auch nichts – warum sind diese Briefe noch nicht getippt?«
»Ich habe keine Zeit.«
»Jetzt haben Sie aber Zeit, nicht wahr? Sie sind zur Arbeit hier, nicht zum Herumsitzen in der Sonne!«
›Hunde, die bellen, beißen nicht!‹, dachte Esther, die es wissen musste, da sie schon seit Jahren für Mr Rafiel arbeitete. Er hatte fast ständig Schmerzen, aber statt darüber zu jammern, machte er sich in bösartigen Bemerkungen Luft. So ließ sie ihn reden.
»Ein wunderschöner Sonnenuntergang, nicht wahr?«, sagte Miss Marple und blieb bei ihnen stehen.
»Gewiss!«, sagte Mr Rafiel. »Deswegen sind wir ja hier!«
Miss Marple lachte gackernd.
»Sie nehmen es aber genau – das Wetter ist nun einmal für den Engländer eine beliebte Einleitung. – Man vergisst – o weh, jetzt hab’ ich die falsche Wolle erwischt!« Sie stellte ihr Strickkörbchen auf den Gartentisch und steuerte auf ihren Bungalow zu.
»Jackson!«, rief Mr Rafiel.
Jackson erschien.
»Bringen Sie mich hinein«, befahl Mr Rafiel, »und massieren Sie mich, bevor diese Gluckhenne wieder zurückkommt. Nützen tut’s ohnehin nichts!« Er ließ sich aufhelfen und von seinem Masseur in den Bungalow führen. Esther Walters sah ihnen nach und wandte sich dann Miss Marple zu, die mit einem Wollknäuel zurückkam.
»Hoffentlich störe ich nicht?«, sagte Miss Marple und setzte sich zu ihr.
»Nicht im Geringsten«, sagte Esther Walters, »ich muss ohnehin gleich weg. Nur noch diese zehn Minuten, solange die Sonne untergeht.«
Freundlich begann Miss Marple zu schwatzen, während sie versuchte, sich über Esther Walters klar zu werden. Keine auffallende Schönheit, aber sie könnte recht apart aussehen. Miss Marple fragte sich, weshalb Esther so wenig aus sich machte. Vielleicht hatte Mr Rafiel das nicht gern – aber wahrscheinlich war es ihm völlig egal. Er war so sehr mit sich selbst beschäftigt, dass er seine
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