Karin Schaeffer 03 - Die stumme Zeugin
Sie hat etwas gesehen und fürchtet sich.«
»Natürlich hat sie etwas gesehen. Vielleicht musste sie zusehen, wie ihre Eltern ermordet wurden. Vielleicht hat sie mitgekriegt, wie Billy ausgerastet ist. In dieser Nacht ist viel passiert, was einem kleinen Mädchen Angst machen kann.«
»Wie hätte sie denn das mit Billy mitbekommen sollen? Er ist erst am Tatort eingetroffen, nachdem sie angefahren wurde.« Ich sah Mac an. Auf seinem Gesicht spiegelte sich der rote Schimmer der blinkenden Lichterketten.
»Ich wollte nur meine Meinung äußern.«
Wir standen auf dem Gehweg – hinter uns lag der Times Square, vor uns das nächtliche Brooklyn. Wir setzten uns in Bewegung und gelangten nach kurzem Fußmarsch zur Smith Street mit ihren Cafes und Restaurants, wo gerade die ersten Gäste eintrudelten.
Bei unserer Rückkehr wurden wir von schallendem Gelächter empfangen. Dathi und Fremont saßen am Küchentisch vor dem Laptop und knabberten TortillaChips, Mary und Ben lagen im Wohnzimmer bäuchlings auf dem Boden und schmückten ein Puppenhaus mit Steinen, die wir vergangenen Sommer am Strand gesammelt hatten. Mary musste es unten entdeckt und hochgeholt haben.
»Ich hoffe, Sie haben keine Einwände.« Mary ergriff eine Handvoll Steine, auf die sie mit Filzstiften Gesichter gemalt hatten.
»Überhaupt nicht.« Ich gab Ben einen Kuss auf den Kopf, doch er reagierte nicht darauf. Da er glücklich zu sein schien, war ich auch glücklich.
»Ich gebe eine Party«, sagte er einen Augenblick später, ohne mich anzusehen, »und alle hier sind eingeladen.«
»Eine Steinparty. Super Idee.«
»Ich denke, er meint seine Geburtstagsparty«, erklärte Mary. »Er hat uns verraten, dass er bald Geburtstag hat.«
»Stimmt. In ein paar Wochen ist es so weit. Schön, dann feiern wir eine Party.« Das meinte ich ernst, denn ich fühlte mich schlecht, weil ich deswegen noch nichts unternommen hatte. »Klar doch, Ben, an deinem Geburtstag schmeißen wir eine Party.«
Kurz darauf standen wir alle im Flur und sagten uns gegenseitig gute Nacht. Wir wünschten Fremont für seinen Auftritt alles Gute und besprachen mit Mary, wann sie am Montag kommen sollte.
Gerade als die zwei gehen wollten, fragte Dathi mich mit leuchtenden Augen: »Vielleicht könnten wir ja zu Fremonts Konzert gehen?«
»Heute Abend?«
»Warum nicht?«
Hätte sie nicht so freundlich gefragt, hätte ich aller Wahrscheinlichkeit nach abgelehnt, aber mit ihrer diplomatischen Art gelang es ihr, mich für sich einzunehmen. »Na, wenn wir uns mit dem Abendessen beeilen, könnten wir’s schaffen.«
»Das Konzert beginnt um acht Uhr«, sagte Mary.
»Geht nur«, rief Mac, der bereits ins Wohnzimmer zurückgekehrt war. »Ich kann Ben ins Bett bringen.«
»Dann sehen wir uns nachher«, versprach ich Mary und Fremont, während sie den Verstärker und die Gitarre die Treppe hinuntertrugen.
Punkt halb acht stiegen Dathi und ich in den Wagen und fuhren nach Park Slope.
* * *
Das Perch Cafe auf der 7th Avenue platzte vor lauter Teenagern fast aus den Nähten. In dem langen, schmalen Raum mit dem großen Schaufenster nahmen die Mitglieder der ersten Band gerade ihre Instrumente in die Hand. In dem Gewimmel konnte ich Fremont nirgendwo ausmachen, und ehe ich mich’s versah, tauchte Dathi auf der Suche nach einem guten Platz in der Menge unter. Trotz ihrer guten Umgangsformen war sie alles andere als schüchtern.
Mary saß an der Bar und vertrieb sich die Wartezeit mit einem Joghurt-Smoothie. Die wenigen Eltern, die gekommen waren, standen vor der Bühne, und an einem halben Dutzend Tische saßen Gäste, die zu Abend aßen. Ein paar Kellnerinnen servierten Essen und Getränke und räumten die Tische ab. Ich bestellte eine Tasse Kaffee, arbeitete mich zu Mary vor und zog einen Stuhl heran.
Genau in dem Moment begann ein junger Mann am elektrischen Piano die ersten Noten zu spielen.
Ich lehnte mich zurück und versuchte vergeblich, über die Menschenmenge, die sich zur Musik bewegte, einen Blick auf die Band oder Dathi zu erhaschen.
Mary las meine Gedanken. »Machen Sie sich keinen Kopf.«
»Ich mache mir ihretwegen eigentlich keine Sorgen. Dathi verfügt über gesunden Menschenverstand und lässt sich nicht so leicht den Schneid abkaufen.«
»Das ist mir auch aufgefallen. Ziemlich ungewöhnlich bei einem Mädchen ihres Alters.«
»Nachts weint sie manchmal, doch tagsüber reißt sie sich zusammen. Natürlich kennen wir uns noch nicht lange, aber trotzdem.
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