Karin Schaeffer 03 - Die stumme Zeugin
Anfang auch Spaß gemacht. Ich war stolz, wissen Sie? Nach einer Weile, ich weiß auch nicht, warum, wurde es langweilig, doch ich konnte wegen meiner Mom den Bettel nicht hinschmeißen. Ein paar von den Jungs in der Kirche haben Mist gebaut ... Drogen genommen und so. Und Überfälle gemacht: keine großen Dinger und nur im Viertel. Verletzt wurde niemand. Das war ja auch nicht Sinn und Zweck des Ganzen.«
»Worum ging es denn dann?«, fragte Mac, in dessen Blick für einen kurzen Moment so etwas wie Bedauern lag.
Eddies Miene erstarrte. »Um gar nichts. Kapiert?«
»Sie waren damals ja noch ein Kind.« Mac ruderte zurück. »Inzwischen sind Sie erwachsen. Arbeiten. Sind ein rechtschaffener Bürger.«
»In jeder Hinsicht«, betonte Eddie.
»Das, was den Dekkers zugestoßen ist, muss Sie ziemlich traurig gemacht haben«, sagte ich. »Dass das ausgerechnet in Ihrem Viertel und dann auch noch Mitgliedern von Pater X’ Kirche passiert ist, hat bestimmt schlimme Erinnerungen wachgerufen.«
Eddie nickte. »Wäre das von damals heute passiert, würde man vielleicht auf mich hören.«
»Kann gut sein«, pflichtete ich ihm bei.
Mac neigte sich vor. »Wenn was passiert wäre, Eddie?«
»Möglicherweise hatten sie ja recht«, begann er. »Ich war nur ein Junkie, der Leute bestahl, und sein Gesicht habe ich ja auch nicht gesehen. Daher war ich ein fragwürdiger Zeuge, obwohl sie das so nicht gesagt haben.«
»Nicht glaubwürdig«, meinte Mac. »Aber jetzt stehen die Dinge anders. Nun sind Sie glaubwürdig. Was haben Sie gesehen?«
»Hm ..« Er griff nach einem weißen Zuckertütchen und faltete es mehrmals. »Also gut. Folgendes spielte sich damals ab: Ich war auf der High School und ging jeden zweiten Nachmittag zum Footballtraining. Als ich an jenem Tag aus der U-Bahn kam, war es bereits dunkel, und mir fiel ein, dass ich nach der Schule ein paar Flugblätter, die meine Mutter gemacht hatte, zum Kopieren in die Kirche bringen sollte. Ich laufe also schnurstracks zur Kirche mit den Flugblättern und lege sie in diese Ablage auf dem Schreibtisch. Dann höre ich Geräusche; sie kommen aus der Abstellkammer, was ich eigenartig finde. Dort wird nur irgendwelcher Kram aufbewahrt, und manchmal gucke ich rein, ob da was ist, das ich mitgehen lassen kann ... Wie auch immer, ich öffne die Tür. Drinnen ist es dunkel. Ohne Licht zu machen, trete ich ein. Durchs Fenster fällt Mondlicht, und ich erkenne zwei Gestalten. Einen Mann und Joanne: einen Jungen, der wie ein Mädchen aussieht. In Wahrheit heißt er Joey, aber weil er aussieht, wie er aussieht, rufen wir ihn Joanne. Dünn ist er. Hat hellblaue Augen, schönes blondes Haar. Er sah echt wie ein Mädchen aus.«
»Wer war bei ihm?«, fragte ich, damit er endlich zum Kern der Geschichte kam.
Er starrte uns an. »Der Pater.«
»Was genau ist in der Abstellkammer passiert?«, fragte Mac.
»Was soll denn die Frage? Was passiert Ihrer Meinung nach, wenn ein Priester mit einem halbnackten, mädchenhaften Jungen in eine Abstellkammer geht?«
»Wie haben Sie reagiert?«, wollte ich wissen.
»Ich hab die Tür geschlossen und bin nach Hause gegangen. Meiner Mutter hab ich gesagt, ich hätte die Flugblätter abgeliefert, und hab zu Abend gegessen.«
Die Luft in dem Donutladen wurde stickig. Eddie drehte das Zuckertütchen um und faltete das untere Ende andersherum.
»Und was ist mit Joey passiert?«, erkundigte ich mich leise.
Eddie zuckte mit den Achseln, den Blick stur auf seine flinken Finger gerichtet. Aus dem zigmal gefalteten Tütchen rieselte Zucker auf die orangefarbene Tischplatte. »Nichts. Hab ihn am nächsten Tag Hand in Hand mit seiner Mutter auf der Court Street gesehen. Der Typ war ein totaler Schlappschwanz.«
»Wissen Sie noch, wie alt er damals war?«, fragte ich ihn.
»Keine Ahnung. Zehn, vielleicht elf. So in etwa.«
»Ist Ihnen das Gleiche wie Joey widerfahren?«, wollte Mac wissen.
Eddie hob abrupt den Blick. Seine Augen funkelten wütend. »Nein. Das hätte ich nie und nimmer zugelassen.«
»Hat der Pater das noch mal mit Joey oder einem anderen Jungen gemacht?«
»Ich weiß nur, was ich damals gesehen habe.«
»Und Sie sind sich sicher, dass der Mann Pater X war?« Mac trank einen Schluck Kaffee und fixierte Eddie über den Becherrand.
»Wer hätte es sonst sein sollen? Er war der einzige Priester in dieser Kirche, und der Scheißkerl hatte seine Robe an.«
»Aber sein Gesicht haben Sie nicht gesehen?«
»Nein.« Eddies Augen wurden
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