Karin Schaeffer 03 - Die stumme Zeugin
passiert ist.«
»Über so etwas kommt man nicht weg. Schließlich waren sie unsere besten Freunde.« Linda rang sich ein trauriges Lächeln ab und nickte eine Weile. Aus der Nähe betrachtet, wirkte sie älter. Ich schätzte sie auf Ende fünfzig. Steve sah jünger aus, aber das Äußere konnte täuschen. »Sie haben so viel Gutes getan. Tja, es wird gewiss nicht leicht, in ihre Fußstapfen zu treten.«
»Kannten Sie einander von der Kirche?«, fragte Billy.
»Fast all unsere Freunde sind in der Kirche.«
»Stimmt«, pflichtete Steve seiner Frau bei.
»Wären Marta und Reed am Sonntagabend mit uns auf die Party gegangen, würden sie jetzt wahrscheinlich noch leben«, mutmaßte Linda. »Marta fühlte sich nicht gut und sagte ab. Hätte jemand geahnt, dass so etwas geschieht, hätten wir darauf bestanden, dass sie uns begleiten.« Sie schüttelte den Kopf und brach in Tränen aus.
»Das lässt sich jetzt nicht mehr ändern.« Steve klopfte ihr zur Beruhigung auf die Schulter. Die Rückseite seiner Hand war von hellen Härchen bedeckt. Als ihre Tränen nicht versiegen wollten, nahm er sie in die Arme. »Heute war ein harter Tag. Morgens hat uns Reeds Anwalt das Testament vorgelesen. Sie haben verfügt, dass wir uns um Abby kümmern sollen.« In seiner Miene spiegelten sich mehrere Empfindungen: Trauer, Freude, Leid, Dankbarkeit und Panik. Die beiden Campbells taten mir ungeheuer leid. Für mein Gefühl fehlte ihnen das Rüstzeug, mit dem gewaltsamen Tod der Freunde fertigzuwerden und deren Tochter großzuziehen.
Eine Krankenschwester kam mit einem Wagen den Flur hoch und steuerte auf Abbys Zimmer zu. Begleitet wurde sie von Sasha Mendelsohn, Abbys Betreuerin, die wir bei meinem ersten Besuch kennengelernt hatten.
»Abby wird jetzt gebadet«, verkündete Sasha fröhlich. In Wahrheit war es natürlich alles andere als erfreulich, wenn eine Krankenschwester ein schwer geschundenes Mädchen im Koma mit einem Badeschwamm säuberte. »Freut mich, Sie wiederzusehen, Detective. Und Sie auch, ähm ...«
»Karin.«
»Genau.«
»Ist eine Besserung in Sicht?«, wollte Billy wissen.
»Wir warten immer noch darauf, dass die Schwellung des Gehirns weiter zurückgeht. Ich kann Ihnen nur sagen, dass ihr Zustand sich nicht verschlimmert hat, falls Ihnen das ein Trost ist.«
»Letztes Mal haben Sie die Möglichkeit angedeutet, sie kurzzeitig aus dem Koma zu holen, damit wir ...«
»Ich weiß, wie gern Sie mit Abby über die Geschehnisse sprechen möchten. Glauben Sie mir, das Krankenhaus musste die ganze Woche einem großen Druck aus allen Richtungen standhalten. Kaum verlässt einer von uns das Krankenhaus, bombardieren die Journalisten uns mit Fragen. All das ändert nichts an unserem Entschluss: Wir werden sie erst aus dem Koma holen, wenn die Schwellung zurückgegangen ist. Bedauerlicherweise ist das bisher nicht geschehen. Es tut mir leid.«
Ihre Äußerung über Journalisten stimmte mit meinen Eindrücken überein. Weder konnte man eine Straße hinuntergehen noch den Fernseher einschalten, ohne über Abby Dekkers Zustand informiert zu werden. Die Einwohner New Yorks wollten erfahren, ob sie etwas über den Prostituiertenmörder wusste – und wenn ja, was. Jeder fürchtete, das nächste Opfer zu werden. Und alle wünschten sich, dass die Mordserie endlich aufhörte. Mag sein, dass das bevorstehende Christfest die Hoffnung auf ein Wunder nährte. In diesem speziellen Fall beteten alle darum, dass Abby aus dem Koma erwachte.
»Ich verstehe«, erklärte Billy, doch in seiner Stimme schwang Ungeduld mit.
»Falls Sie die Kleine vor dem Baden sehen möchten, können Sie das jetzt tun«, bot Sasha an.
»Es war ein langer Tag«, meinte Steve. »Ich bin Lehrer und unterrichte die Mittelstufe. Da muss ich früh raus. Wir machen uns jetzt wohl besser auf den Weg.«
»Könnten Sie mir Ihre Telefonnummer geben?«, fragte Billy. »Ich würde Sie morgen gern anrufen.«
Steve holte sein Portemonnaie aus der Tasche, fischte mit zitternden Fingern eine Visitenkarte heraus und gab sie Billy. »Sie können sich jederzeit bei uns melden.«
Pater X klopfte Linda, die immer noch schluchzte, wohlmeinend auf die Schulter, bevor Steve sie wegführte. »Es war wirklich ein langer Tag.«
»Sie waren heute Morgen auch schon sehr früh da«, sagte Sasha zu Pater X, als wir gemeinsam in Abbys Krankenzimmer traten. An der Wand gegenüber von ihrem Bett hing jetzt eine große fröhliche Collage mit lustigen Klassenfotos und Namen in
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