Karin Schaeffer 03 - Die stumme Zeugin
lange ich derlei Gedanken nachging.
Plötzlich hörte ich meinen Namen rufen, öffnete die Augen und reckte den Kopf. Ein paar Reihen weiter vorn stand ein Mädchen, das meinen Namen rief.
»Ich bin Karin Schaeffer«, sagte ich, stand auf und ging auf sie zu.
Mit einem zaghaften Lächeln drehte sie sich um, griff nach der am Koffer befestigten Leine und schleifte das kleine Gepäckstück ohne Rollen hinter sich her, während sie auf mich zuschritt.
»Dathi?«, fragte ich, als ich vor dem Mädchen mit dem runden Gesicht, den schiefen Zähnen und leuchtenden schwarzen Augen stand.
»Hast du noch jemand anderen erwartet?« Dathi grinste bis über beide Ohren. Ihr Teint war einen Ton heller als Chalis. Wie ihre Mutter hatte sie das dichte schwarze Haar zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden. Sie trug einen gelben Rock, eine dünne schwarze Bluse, auf die mit weißem Garn eine abstrakte Blume gestickt war, silberne Ohrringe mit weißen Perlen und nagelneue schwarze Turnschuhe. Obwohl man sie nicht als klassische Schönheit bezeichnen konnte, schien sie von innen heraus zu strahlen und war äußerst apart.
»Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie sehr ich mich freue, dich zu sehen!« Da konnte ich nicht mehr an mich halten und schloss sie in die Arme. Als sie auch die Hände um mich schlang, fiel mir ein Stein vom Herzen, zumal ich mir schon ausgemalt hatte, dass sie aus Enttäuschung darüber, nicht von ihrer Mutter abgeholt zu werden, nichts mit mir zu tun haben wollte. Ihr Haar fühlte sich samtweich an, und wie ihre Mutter roch sie nach Sandelholz.
»O doch, ich kann mir das schon vorstellen«, meinte sie und drückte mich. »Ich freue mich auch, dich zu sehen.«
Bei diesen Worten wurde mir klar, dass sie bereits Bescheid wusste. Allerdings musste ich absolute Gewissheit haben, und so begann ich zu fragen: »Dein Onkel – hat er dir erklärt ...«
»Nein, aber nach Omas Tod bin ich ins Netz gegangen und habe Artikel über den Tod meiner Mutter gefunden. Denn meine Oma wollte mir noch etwas Wichtiges sagen, aber dann starb sie. Wenn du mich fragst, hat die Vorstellung, mir so etwas Schreckliches erzählen zu müssen, ihr buchstäblich das Herz gebrochen. Ich habe ein paar sehr schlimme Wochen hinter mir, aber jetzt bin ich hier. Meine Mutter hat dir vertraut, und deshalb vertraue ich dir auch.«
Wie hatte Oma Edha von Chalis Tod erfahren? Dathis gefasste Miene und ihr hoffnungsvoller Blick hielten mich davon ab, weiter in sie zu dringen. Sie hatte es nach New York geschafft, und ich wollte mir lieber nicht ausmalen, was sie während der vergangenen Wochen durchgemacht hatte. Die Kleine hatte die Großmutter verloren, war bei ihrem hartherzigen Onkel gelandet, hatte von der Ermordung ihrer geliebten Mutter erfahren, war an einen Menschenhändler verschachert worden, weggelaufen ... und all das in einem Land, wo einem Mädchen wie ihr kein Mitgefühl entgegengebracht wurde. Irgendwann würden wir über all diese Dinge sprechen; aber das konnte warten.
Sie packte den Koffergurt und zog ihr Gepäck über den gebohnerten Boden. Ich wollte ihr den Koffer abnehmen, doch sie sträubte sich dagegen.
»Nein, ich schaffe das. Wirklich.«
Ich respektierte ihren Wunsch, obgleich es mir Unbehagen bereitete, dass dieses schmale Mädchen einen schweren Koffer zog, während ich beide Hände frei hatte. Kaum hatten wir den Flughafen verlassen, wurde mir bewusst, dass sie gar keinen Mantel besaß. Als ich ihr meinen anbot, lehnte sie dankend ab.
Sie blieb automatisch vor der nächstgelegenen Bushaltestelle stehen und warf mir einen fragenden Blick zu.
»Ich habe ein Auto. Es steht dort drüben.« Ich zeigte auf einen kostenpflichtigen Parkplatz ganz in der Nähe.
»Was für ein Luxus!« Sie setzte sich wieder mit ihrem Koffer in Bewegung. »Daheim bin ich immer zu Fuß gegangen. Ich hatte gehofft, ein Fahrrad zu kriegen, doch Omi meinte, wir sollten unser Geld nicht dafür ausgeben. Sie meinte, sobald ich bei meiner Mutter in Amerika lebe, würde alles anders sein. In Amerika hat jeder ein Fahrrad. Überhaupt kein Problem. In Indien haben es die meisten Leute sehr schwer. Aber heute ist mein Glückstag! Ich fahre mit dir in deinem Wagen nach Hause, und Onkel Ishat hat mich in seinem neuen roten Nano zum Flughafen gebracht. Du hättest ihn sehen sollen: In dem kleinen Auto kam er sich wie ein König vor.« Heiterkeit und Abneigung schwangen in ihrem Lachen mit. Nun brauchte ich mir nicht weiter darüber den Kopf zu
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