Karin Schaeffer 03 - Die stumme Zeugin
betrachten, und dafür gesorgt, dass Billy nicht länger im Schussfeld stand. Von nun an würde ich mich raushalten – oder es zumindest versuchen.
Es sei denn ... Ich schaffte es einfach nicht, mir den vierten Musketier aus dem Kopf zu schlagen. Im Geiste malte ich mir aus, was für ein Typ er war, wie er mit seinen Kumpanen abhing, wie sie zu viert die Smith Street hinuntergingen, in die Atlantic Avenue bogen und an der Bushaltestelle warteten.
Und ich musste auch ständig daran denken, welchen Eindruck Abby bei unserem letzten Zusammentreffen gemacht hatte, wie sehr ihr Zustand mich an Billys PTBS-Schübe erinnerte. Die Übereinstimmungen waren nicht von der Hand zu weisen: das Schweigen, dieser verschleierte, nach innen gerichtete Blick, die offenkundigen Reisen in die Vergangenheit, an einen furchtbaren Ort, den man besser vergaß, der Argwohn, der sie verstummen ließ. In Wahrheit war ihr Schweigen nur Ausdruck einer Leere, weil sie gar nicht mehr anwesend, sondern längst abgetaucht war.
Mac ging arbeiten, und ich beschäftigte mich mit Ben. Irgendwann jedoch konnte ich mich nicht mehr beherrschen, schnappte den Laptop und googelte nach Edward Walczak.
Im Online-Telefonbuch fand ich nur einen Eintrag unter diesem Namen. Sofern die Information noch aktuell war, wohnte er bis zum heutigen Tag in Boerum Hills. Ich speicherte seine Adresse in meinem BlackBerry – nur für den Fall.
Gegen halb vier hörte ich, wie jemand die Haustür öffnete. Ben und ich stürmten in den Flur, um Dathi zu begrüßen, die gerade ihre Schuhe auszog und ihren Rucksack abnahm.
»Wie war dein Schultag?«, fragte ich.
»Gut.«
Da sie einen ziemlich erschöpften Eindruck machte, kaufte ich ihr das nicht ab. Dieses Feuer, das sie aus der alten Heimat mitgebracht hatte, versiegte allmählich. Ich konnte nicht länger die Augen davor verschließen, wie anstrengend die kleinen und großen Veränderungen für sie sein mussten: die Heimkehr in ein neues Haus, die ungewohnten Kleider, das fremde Essen, die vermeintliche Coolness ihrer neuen Klassenkameraden. Nach außen hin gab sie sich tapfer, doch ich konnte sehen, wie schwer ihr die Umstellung fiel. Jedes Mal wenn ich daran zweifelte, ob ihre Übersiedlung in die Vereinigten Staaten richtig gewesen war, zwang ich mich, daran zu denken, dass ich sie vor einem furchtbaren Schicksal bewahrt hatte.
Sie ging mit uns in die Küche, wo wir uns an den Tisch setzten und die Kinder etwas aßen. Anschließend spülte Dathi ihr Geschirr, und Ben folgte ihrem Beispiel. Er stellte sich dabei auf einen Stuhl und beobachtete ganz genau, wie sie jeden Gegenstand sorgfältig abwusch und auf das Abtropfregal stellte.
»Lass uns Maretti spielen«, schlug er vor, als sie fertig war.
Ihr sehnsüchtiger Blick Richtung Laptop, der aufgeklappt auf dem Tisch stand, verriet mir, dass sie lieber ins Netz gehen wollte. Langsam gelang es mir, in ihr zu lesen wie in einem offenen Buch, und in dem Moment begriff ich, wie wichtig es war, auf ihre Bedürfnisse einzugehen, um ihr Vertrauen zu erringen.
»Möchtest du vor den Hausaufgaben noch sehen, was es Neues auf Facebook gibt?«
Sie lächelte, und plötzlich war da wieder dieses Feuer, das mir gleich bei ihrer Ankunft aufgefallen war.
»Ich will aber Maretti spielen!«, beharrte Ben.
»Ich spiele mit dir.« Ich stand auf und schob den Laptop zu Dathis Platz.
Noch ehe sie sich gesetzt hatte, flogen ihre Finger über die Tastatur. Während Ben und ich kleine Spielzeugautos quer durchs Wohnzimmer schossen, saß sie in der Küche und tippte wie von Sinnen. Nach einer Weile tauchte sie im Türrahmen auf.
»Jetzt habe ich dreiundachtzig Freunde.«
Ich hob den Blick. »Meinst du Facebook-Freunde?« Die Vorstellung, dass das echte Freunde waren, erschien mir immer noch abwegig.
Sie nickte.
»Super.«
»Einmal abgesehen von den Freunden daheim kenne ich nur sieben von meinen neuen Freunden persönlich. Die anderen sind Freunde von Freunden. Ziemlich aufregend, wie schnell das hier geht. Hier sind viel mehr Leute online als zu Hause. Die Sache ist nur ...«
»Was denn?« Ich lehnte mich auf dem Wohnzimmerboden nach hinten.
»Die eine Person, von der ich gern hören würde, meldet sich überhaupt nicht.«
Zuerst dachte ich, sie spräche von Chali. Meinte sie allen Ernstes, ausgerechnet über Facebook Kontakt mit ihrer Mutter aufnehmen zu können? Die Abwegigkeit dieses Gedankengangs ließ mich erkennen, dass ich vollkommen falschlag. Und so fragte ich:
Weitere Kostenlose Bücher