Karin Schaeffer 03 - Die stumme Zeugin
vier ist.«
»Kennen sich Ihre Tochter und Abby von der Schule?«, fragte Linda. »Ich muss so viel wie möglich über ihr Leben in Erfahrung bringen, falls ich nun ihre Mutter sein soll. Nicht falls. Ich meinte, weil.« Linda stieg die Röte ins Gesicht.
»Das schaffst du schon mit der Zeit«, versicherte Steve ihr. Da er offensichtlich ein hingebungsvoller Ehemann war, ging ich davon aus, dass er sich auch als Vater so verhalten würde. Jedenfalls hatten die Dekkers anscheinend große Stücke auf ihn gesetzt. Dass sie auch Linda ihr Vertrauen geschenkt hatten, nahm mich allerdings wunder.
»Marta und ich waren eng befreundet, aber erst jetzt begreife ich, wie wenig ich von ihrem Alltag mitgekriegt habe.«
»Wir alle wandeln im Schatten«, merkte Pater X in einem Ton an, der beruhigen sollte, doch das zog nicht bei mir.
Alles, was er sagte oder tat, hinterfragte ich oder lehnte es gar rundweg ab. Plötzlich fiel mir eine Textstelle aus der Sonntagsschule ein, die immer mit bedrohlichem Unterton zitiert wurde: Wer unter dem Schirm des Höchsten sitzt, bleibt unter dem Schatten des Allmächtigen.
Kaum kam mir das in den Sinn, ärgerte ich mich schon über meine Arroganz. Womöglich hatte La-a recht, und ich urteilte, ehe es Beweise gab. Möglicherweise waren meine Vermutungen zu unseren Fällen nicht das Ergebnis eines speziellen Instinkts, sondern nur Vorurteile, wodurch ich die ganze Ermittlung gefährdete. Vielleicht war es ja doch besser, wenn ich ihren und Billys Rat beherzigte und mich nicht in ihre Arbeit einmischte.
»So ist es.« Steve klopfte Pater X auf den Rücken. »Wir versuchen, so viel wie möglich über Abbys Leben zu erfahren, und bei allem anderen können wir improvisieren, oder? Du wirst ihr eine gute Mutter sein, Linda.«
»Das erfordert eine gehörige Umstellung, aber ich freue mich auch darauf«, betonte Linda. »Ich möchte nicht, dass jemand etwas anderes denkt. Darling, da fällt mir gerade etwas ein ... Was ist mit Brasilien?«
»Die Reise wurde schon vor einem Jahr gebucht.«
»Na, dann bleibe ich eben daheim, und du fährst.« Sie wandte sich zu mir um und sagte mit einem Grinsen: »Seit Jahren fahren die Jungs im Frühling zum Fischen nach Brasilien, und wir Mädels reisen für eine Woche nach Paris.«
»In Brasilien kann man prima fischen.« Der Gedanke zauberte ein Lächeln auf Steves Lippen. Als Lehrer hatte er sich diese Reisen, für ihn vermutlich der Höhepunkt des Jahres, zugegebenermaßen schwer verdient.
»Natürlich«, fuhr Linda fort, »wird es ohne Marta nicht mehr das Gleiche sein. Daher macht es mir nichts aus, daheimzubleiben. Um ehrlich zu sein, ist es mir sogar lieber.«
»Nächstes Jahr stimmen wir uns ab«, überlegte Steve laut, »oder einer fährt das eine Jahr und der andere im nächsten. Wir finden da bestimmt eine Lösung.«
Jetzt fiel mir wieder ein, wieso mir Steve bei unserer ersten Begegnung bekannt vorgekommen war: Auf dem Foto im Wohnzimmer der Dekkers war er der Mann neben Reed. Die Aufnahme, auf der die beiden Männer ziemlich entspannt und sonnengebräunt aussahen, war auf einem Boot gemacht worden.
»Wie steht es mit Ihnen, Pater?«, fragte ich. »Brauchen Sie nicht auch eine Auszeit?«
»Ich nehme selten frei – und wenn, dann besuche ich Orte, die ich mit dem Auto erreichen kann.« Er rang sich ein Lächeln ab und wandte sich an die Campbells. »Sollen wir?«
Ich folgte ihnen in Abbys Zimmer.
Dathi saß auf der Bettkante und trug Abby wie eine geübte Erzählerin in dramatischem Flüsterton eine Geschichte vor. Allem Anschein nach kam sie gerade zum Höhepunkt, denn Abby neigte sich zu Dathi vor und lauschte ganz gespannt. In dem Augenblick, wo sie uns kommen hörten, gingen sie auf Distanz.
»Ach, Schätzchen, du siehst ja viel besser aus!« Linda eilte an Abbys Bett und beugte sich über sie.
Abby zeigte keinerlei Regung, ihre Miene war ausdruckslos. Die Begeisterung, die sie eben noch an den Tag gelegt hatte, war schlagartig fort.
»Wie geht es dir? Kannst du bald nach Hause kommen?« Wie bei ihrem letzten Besuch zögerte Linda kurz, bevor sie Abbys Stirn vorsichtig berührte; diesmal brach sie gottlob nicht in Tränen aus. Dann wich sie zurück und lächelte wohlwollend Abby zu, während Dathi sich nicht rührte.
Bei Dathis Anblick, die mir überhaupt nicht ähnlich sah, spiegelte sich Verwunderung in den Mienen von Pater X und den Campbells.
Obschon es sie im Grunde genommen gar nichts anging, weshalb ich sie als meine
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