Karin Schaeffer 03 - Die stumme Zeugin
Lippen. Ich hatte Dathi davor gewarnt und war ziemlich beeindruckt, wie abgeklärt sie auf das Schweigen ihrer Freundin reagierte.
Der Besucherstuhl stand in der Zimmerecke, und als ich ihn ans Bett schob, trat Dathi zurück, damit ich mich setzen konnte.
»Der ist für dich«, sagte ich.
»Nein, ich stehe.«
»Nimm ihn. Ich möchte gar nicht sitzen.«
Dathi gab nach und schob den Stuhl noch näher ans Bett. Schon vor ihrem Besuch hatte sie beschlossen, dass Abby und sie Freundinnen sein würden, und so war es dann auch. Wundersamerweise sah Abby, die auch ein Stück näher rückte, das genauso.
»Karin hat mir von dir erzählt«, begann Dathi. »Ich habe dich auf Facebook gefunden, und jetzt sind wir Freundinnen. Nach dem Unterricht habe ich dir das alles geschrieben. Ich bin auf der Middle School 51. Zu welcher Schule gehst du?« Sie rollte die Zeichnung auf und zeigte sie Abby die jedes Detail in sich aufsog.
»Kannst du sagen, was das ist?« Dathi beobachtete Abbys Miene. »Siehst du es? Das ist ein Mädchen mit ihrer Mutter. Das ist das Schöne an Müttern: Kuschelt man sich an sie, sind sie weicher als alles andere. Meine hat nach Nelken gerochen. Eine Klassenkameradin hat mir erzählt, ihre Mutter rieche nach Keksen. Kekse esse ich sehr gern. Daheim, in meinem Dorf in Indien, waren Kekse etwas ganz Besonderes.«
Abby lenkte den Blick von der Zeichnung auf Dathi, die ihre Federohrringe und ein Stirnband trug, das ihr rundes, ernstes Gesicht betonte. In ihrer neuen amerikanischen Kleidung wirkte sie ein wenig merkwürdig: Ihr fehlte noch die Lässigkeit für so ein Teenager-Outfit, und sie war einfach zu intelligent für den SMS-Slang ihrer Altersgenossen. Auf Dathis Schule hatte ich ein Mädchen sagen gehört: »NB, sie war meine BFFI, aber sie ist so chaotisch, dass ich ihr LL nicht mehr ausstehen kann.« Es dauerte eine ganze Weile, bis ich den Satz entschlüsselt hatte. In der einen Woche seit Dathis Ankunft hatte ich viel gelernt – und das, obwohl sie in ihrer Welt noch ein Außenseiter war. Doch im Vergleich zu ihr lebte ich auf einem anderen Planeten, was mir das Kichern der beiden Mädchen wieder deutlich vor Augen führte.
Ich wartete neben der Tür und bemühte mich, ihre Zweisamkeit nicht zu stören und mich von dieser für Mädchen so typischen und geheimnisvollen Welt fernzuhalten.
»Soll ich die Zeichnung hier aufhängen, damit du sie sehen kannst?« Dathi zeigte auf eine Stelle gegenüber von Abbys Bett, gleich unter dem an der Wand befestigten Fernseher.
Abby nickte nach kurzem Zögern.
»Ich brauche Klebeband.« Dathi blickte sich suchend im Krankenzimmer um.
»Ich kann mal beim Empfang nachfragen, ob sie dort welches haben«, bot ich an.
Auf dem Weg dorthin lief ich den Campbells über den Weg. Linda wirkte bei weitem nicht mehr so gestresst wie bei unserer letzten Begegnung, wo sie die Fassung verloren hatte und in Tränen ausgebrochen war. Pater X, der wesentlich blasser und dünner als vor seiner Einlieferung war, begleitete das Paar.
Wir begrüßten uns mit Handschlag, und ich erkundigte mich nach seiner Gesundheit. Er berichtete, dass er nur zwei Nächte im Krankenhaus gewesen sei und man ihn unter der Auflage, kürzerzutreten, entlassen habe. Der wohlmeinende Rat der Ärzte ließ uns schmunzeln.
»Wie soll das gehen?«, sinnierte Linda. »Meinen die Ärzte, man könnte einfach seine Koffer packen und auf eine einsame Insel ziehen?«
»Das soll den Blutdruck beträchtlich senken.« Pater X lachte, bis sich seine Wangen rot färbten.
Ich hasste ihn.
Ich kannte ihn nicht, und vielleicht vergifteten die vielen Berichte über pädophile Priester meine Gedanken. Vielleicht durfte ich diesen Mann Gottes nicht für die Verbrechen anderer verantwortlich machen, aber ich konnte einfach nichts gegen dieses Gefühl machen. Was hatte er eigentlich andauernd am Krankenbett von diesem Waisenkind zu suchen? Musste er sich nicht auch um seine anderen Schäfchen kümmern?
»Ich hörte, Detective Staples möchte noch mal versuchen, mit Abby zu reden«, wandte sich Pater X in einem leicht weinerlichen Ton an mich. Um wen trauerte er: um Reed, Marta, Abby oder sich selbst?
»Ich bin mit meiner Tochter gekommen, die gerade bei Abby ist.« Dass ich Dathi als meine Tochter ausgab, nahm in diesem Moment selbst mich wunder.
»Ich wusste gar nicht, dass Sie eine Tochter haben«, sagte Pater X.
»Doch. Sie ist ungefähr in Abbys Alter. Und ich habe auch noch einen Sohn, der drei, nein, fast
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