Karin Schaeffer 03 - Die stumme Zeugin
»Abby?«
»Ja, sie ist hier meine beste Freundin. Bitte erzähl Oja nicht, dass ich das gesagt habe.«
Ich verkniff mir ein Lächeln. »Du kannst dich auf mich verlassen.«
Dathi ging in den Flur und holte ihren Rucksack. Auf dem Weg in die Küche, wo sie nachmittags immer ihre Hausaufgaben machte, hielt sie inne, kramte in ihrem Tornister herum und zog ein Blatt Papier hervor, auf das sie etwas gemalt hatte. Sie reichte mir den Bogen und wartete gespannt, während ich die Skizze betrachtete.
Auf dem schweren weißen Papier hatte sie mit Kohle schwungvoll zwei Frauen festgehalten, oder – bei genauer Betrachtung – eine Frau und ein Mädchen, die einander umarmten. Mutter und Tochter. Mir stiegen Tränen in die Augen. Dathi vermisste Chali mehr, als ich mir vorstellen konnte. Ich kannte die Verzweiflung einer Mutter, die sich nach ihrem toten Kind sehnte, aber was wusste ich über die unvollständig entwickelte Trauer eines Kindes, das seine Mutter verloren hatte? Ihr Leid war meinem ähnlich und trotzdem ganz anders.
Ben, der merkte, dass etwas nicht stimmte, stellte sich hinter mich und spähte über meine Schulter auf die Zeichnung. Die Nähe, die ich spürte, als er sich an meinen Rücken schmiegte, und sein warmer Atem, der meinen Nacken streifte, erfüllten mich mit einer Liebe, die beinah schmerzte.
»Sehr schön«, wisperte ich.
»Das ist für sie.«
Für Chali, dachte ich und wurde erneut umgehend eines Besseren belehrt.
»Für Abby.« Dathi nahm die Zeichnung zurück. »Vor ein paar Minuten habe ich ihr eine Nachricht geschickt. Meinst du, die Zeichnung wird ihr gefallen? Soll ich sie ihr mailen?«
»Ich hätte da eine bessere Idee.« Ich stand auf und setzte Ben schwungvoll auf meine Hüfte. »Los, zieht eure Schuhe und Jacken an.«
»Ich muss Hausaufgaben machen!« Aber der beschwingte Tonfall, mit dem sie das sagte, zeigte an, dass ihr Einwand nicht ernst gemeint war. Sie ahnte, was ich vorhatte, und wusste genauso gut wie ich, dass ihre Hausaufgaben warten konnten.
Wir brachten Ben zu Mac, wo er im neuen Büro seines Vaters Chaos stiften konnte, kehrten in der einsetzenden Abenddämmerung um und marschierten durch die Kälte zur U-Bahn. Falls alles gutging und es keine Verzögerungen gab, würden wir eine halbe Stunde, bevor die Besuchszeit endete, im Krankenhaus eintreffen.
KAPITEL 17
Bei unserem Eintreffen im Krankenhaus war Abby allein. Bis zu diesem Tag hatte ich sie nur in Gegenwart von anderen Besuchern oder Sasha Mendelsohn angetroffen. Die Krankenschwester am Empfang erkannte mich und winkte mich durch, während sie den Hörer ihres klingelnden Telefons abnahm.
Die Zimmertür stand offen. An mehrere Kissen gelehnt, las Abby Hüter der Erinnerung. Dass sie selbst las und das Buch auch halten konnte, war höchst erfreulich. Demnach musste ihr Schlüsselbeinbruch fast ausgeheilt sein. Da ihr Krankenhaushemd oben geöffnet war, konnte man erkennen, dass die vielen blauen Flecken auf ihrer Brust jedoch noch nicht ganz verschwunden waren. Ihren Gips, mit dem ihr Bein ruhig gestellt wurde, zierten ein paar Namen und Kritzeleien.
Sie nahm Notiz von uns, als wir eintraten, und spähte über den Buchrand.
»Hallo, Abby. Ich bin Karin. Erinnerst du dich? Ich war ein paarmal hier und wohne in der gleichen Straße wie du. Das hier ist Dathi. Sie ist zwölf und möchte dich unbedingt kennenlernen.«
Ihr Blick huschte von mir zu Dathi, die grinste.
»Ich habe es mitgebracht.« Sie hielt die Zeichnung hoch. »Hast du meine Nachricht auf Facebook gelesen? Ich wollte mit dir chatten, aber du bist nie online. Hier.«
Abby ließ das Buch fallen. Dathi eilte zu ihr und versuchte, es aufzufangen; die zusammengerollte Skizze warf sie auf das Bett. Ihr unbeschwertes Lachen führte dazu, dass sich Abbys Miene ein wenig aufhellte.
»Wo ist dein Lesezeichen?« Dathi suchte es; sie blätterte das Buch durch, schaute unter das Bett und unter Abbys Laken. Zu guter Letzt fand sie es auf dem Boden. »Hier! Aber wie finden wir die richtige Seite?«
Abby streckte die Hand nach dem Buch aus, das Dathi ihr reichte, blätterte vor, bis sie die Stelle fand. Sie überließ es Dathi, das Lesezeichen hineinzulegen. Zaghaft lehnte Abby sich wieder an die Kissen und versuchte, sich mehr aufzurichten.
»Warte.« Dathi eilte ihr zu Hilfe und schüttelte die Kissen auf. »Besser so?«
Obwohl Abby beweglicher war als in den vergangenen Wochen und auch ohne Hilfe sitzen konnte, kam ihr immer noch kein Wort über die
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