Karl der Große: Der mächtigste Kaiser des Mittelalters - Ein SPIEGEL-Buch (German Edition)
wenn sie dieses Gesicht sehen«, sagt Minkenberg. Denn im Gegensatz zum echten Karl, der vermutlich eine große Nase und ein Doppelkinn hatte, ist das güldene Antlitz alterslos und ebenmäßig. Einer von Karls Ellenknochen steckt in einer Art Unterarm aus vergoldetem Silber, der aus Frankreich stammt; einer seiner Beinknochen liegt quer in einer aus Silber getriebenen Reliquienlade. Der Rest seines Skeletts soll im Karlsschrein ruhen, einem riesigen, mit Gold überzogenen Eichenholzkasten, der mitten in der gotischen Chorhalle aus dem 14 ./ 15 . Jahrhundert steht. Die Knochen sind vermessen: Sie gehörten alle ein und demselben »überdurchschnittlich großen Mann«, sagt Minkenberg. Nicht nur Karl war übrigens stattlich. Im belgischen Nivelles ruhen die angeblichen Gebeine seiner Frau Himiltrude: Die Dame war 1 , 78 bis 1 , 82 Meter groß. Erstaunlich am kaiserlichen Skelett: »Der Besitzer hatte keine gut ausgeprägte Muskulatur«, so der Domexperte. »Auf einen durchtrainierten Reiter deuten sie eher nicht.« Der reisemüde Herrscher frönte neben dem warmen Bade wohl nur noch einem Hobby: gutem Essen. »Die Forscher haben keinerlei Anzeichen von Mangelernährung im Knochen festgestellt – sehr selten für ein Skelett aus dem Mittelalter.«
Woran der etwa 65 -Jährige starb, darüber gaben die Untersuchungen keinen Aufschluss. Einhard spricht von »Alter und Krankheit«; der alte Mann hatte begonnen zu hinken. Zahlreiche Vorzeichen hätten seinen Tod angekündigt, schreibt der Biograf nach antiken Mustern: Es habe Sonnen- und Mondfinsternisse gegeben, die von ihm gebaute Rheinbrücke sei vom Feuer vernichtet worden, selbst seine Marienkirche traf angeblich der Blitz, und die rote Inschrift in der Kirche, die auf »Karolus Princeps« endete, verblasste. Der große Karl starb in den frühen Morgenstunden des 28 . Januar 814 , nach einer Woche mit hohem Fieber und Schmerzen. »Sein Leichnam wurde nach herkömmlicher Sitte gewaschen und aufgebahrt, dann in die Kirche gebracht und unter großem Klagen des ganzen Volkes begraben«, so Einhard. Über den Begräbnisort musste zunächst beraten werden, da der Kaiser »keine Anweisungen« hinterlassen hatte. Eigentlich wäre ja Saint-Denis, wo sein Vater ruhte, der Ort der Wahl gewesen. Doch die Hinterbliebenen entschieden sich für die Marienkirche, wo »ein vergoldeter Bogen mit seinem Bild und einer Inschrift über dem Grab errichtet« wurde. Von Bogen und Bild fehlt jede Spur. »Fest steht, dass Karl hier noch am Tag seines Todes begraben wurde«, erklärt Minkenberg. »Die wussten, dass Aachen ohne Karl bedeutungslos werden würde.«
Gestrichene Jahrhunderte
Die abstruse These vom »erfundenen Mittelalter«
Von Johannes Saltzwedel
Spuren Karls des Großen finden sich reichlich in ganz Europa. Aber das kann dem legendären Frankenherrscher nicht helfen: Eigentlich hat es ihn nie gegeben. Mit dieser steilen These schreckte ein gewisser Heribert Illig 1996 das deutsche Feuilleton auf. Angeregt von Behauptungen, aus den »dunklen Jahrhunderten« des werdenden Mittelalters sei nur wenig überliefert, neugierig gemacht durch bauliche Kühnheiten in Aachen und anderswo, voll Misstrauen gegen zünftige Historiker, holte der frühere Systemanalytiker und Doktor der Literaturwissenschaft zum großen Schlag aus: Die Jahre von 614 bis 911 könne man aus der abendländischen Chronologie streichen; die allermeisten Karolinger seien pure Fiktion, ihre Epoche insgesamt eine Fälschung.
In seinem Buch »Das erfundene Mittelalter« führte Illig neben Verdächtigungen, Behauptungen, Entlarvungs- und Umdatierungsversuchen eine seltsame Rechnung ins Feld: Beim Wechsel zum gregorianischen Kalender seien 1582 statt 13 nur 10 Tage ausgefallen. Der Differenz entsprächen aber in der Gegenrechnung etwa drei Jahrhunderte, die es folglich nie gegeben habe. An dieser »größten Zeitfälschung der Geschichte« habe der Vatikan auf jeden Fall gewichtigen Anteil. Die Suche nach Hintermännern gestaltete sich allerdings schwierig. Drahtzieher der »Karlsfiktion« sei, so Illig, vielleicht Kaiser Otto III. (980 bis 1002) gewesen; später glaubte er beim byzantinischen Kaiser Konstantin VII. (905 bis 959) den Ursprung der Täuschungsabsichten zu erkennen.
Auf Laien konnte die atemlose, in reißerischen Büchern fortgesetzte Fahndung nach angeblichen Unterschiebungen und Anachronismen faszinierend wirken. Bald bildete sich eine Sektierergemeinde um den Rebellen der Chronologie. In dem Blatt
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