Karl der Große: Der mächtigste Kaiser des Mittelalters - Ein SPIEGEL-Buch (German Edition)
(später »Aquis«, »Aix«) war reich an Thermalquellen, mit bis zu 75 Grad den heißesten weit und breit. Heute sprudeln sie am Elisengarten im Stadtzentrum aus mundgerechten Speiern. Aachener Kinder müssen davon in der Grundschule kosten; Geruch und Geschmack fauler Eier prägen so auch das Gedenken an den badebegeisterten Stadtvater Karl. Zu dessen Zeiten war das Schwefelwasser noch nicht geruchsneutral aufbereitet wie in den modernen »Carolus Thermen« im Stadtteil Haaren. Sicherlich waren es die Quellen, weswegen Aachen zur Dauerresidenz aufstieg; »er liebte die Dämpfe heißer Naturquellen«, schreibt Karls Biograf Einhard unwiderlegt. Zudem konnte der Wildbret-Genießer im Umland »fleißig« jagen.
Zu diesen bekannten Gründen kommt aber wohl ein weiterer, den die Forschung lange nicht kannte. Noch vor zehn Jahren hielt man das vorkarolingische Aachen für eine unbedeutende ehemalige Siedlung längst abgezogener römischer Truppen, die hier ihre Verletzten kuriert hatten. »Das ist so nicht haltbar«, sagt Andreas Schaub. Der 48 -Jährige ist seit 2006 Aachens Stadtarchäologe. Seitdem begleitet Schaub jedes Buddeln im Erdreich. Im Elisengarten hat ein Team Fundamente freigelegt, die für ihn darauf hinweisen, dass die Stadt unter den Römern sogar »zu den Top Ten in Deutschland« gehörte. Ein Teil der antiken Mauern, auf denen Aachen steht, ist heute in der Ursulinerstraße unter Glas zu sehen: im Fußboden einer Drogerie. Wie berühmt der Kurort schon im zweiten Jahrhundert gewesen sein muss, beweist die in Sandstein gemeißelte Dankesinschrift einer Julia Tiberina. Sie war eigens aus dem fernen Britannien zur Badekur gekommen und bedankte sich für ihre Heilung mit der Stiftung zweier Tempel.
Karl der Große fand sogar eine Wehrmauer der Römer von stattlichen 4 , 63 Meter Dicke vor. Auch sie überraschte die Experten. »Wir wissen, dass sie erst im 12 . Jahrhundert abgetragen wurde«, erklärt Schaub. Karls Pfalz war also, anders als früher vermutet, gut befestigt – zumindest im Kern. Denn die Mauer verlief direkt hinter seinem Regierungspalast, heute ein Teil des Rathauses.
Eine blonde Frau mit vergnügten Augen empfängt zum Rundgang, die Bauforscherin Judith Ley, 38 . »Schriftlich ist leider wenig über dieses Gebäude und seine Funktion überliefert«, sagt Ley. Erstaunlich eigentlich, denn die »Aula Regia«, zu Deutsch Königshalle, war damals die größte ihrer Art. »Vorbild war unter anderem die Konstantins-Basilika in Trier.« Doch während die Trierer Halle noch immer mit ihrem Volumen beeindruckt, ist Karls Saal geschrumpft. Der einst etwa 44 Meter lange, 17 Meter breite und an die 18 Meter hohe Raum wurde in drei Geschosse unterteilt. Nur im oberen Krönungssaal, wo alljährlich der Karlspreis verliehen wird, ahnt man noch, in welchen Dimensionen hier Herrschaft ausgeübt wurde. Immerhin reisten damals Gesandte aus aller Welt an, selbst vom byzantinischen Kaiserhof, dem Patriarchen von Jerusalem und dem Kalifen von Bagdad.
Außen am Rathaus sieht man unter Glas, dass die Fundamente der Königshalle aus Spolien, also wiederverwendeten Bauteilen, bestanden, sogar römischen Grabsteinen. In den Granusturm, der direkt an die Regia anschließt, gelangt man heute durchs Standesamt. Hier kann man besichtigen, wie mühsam die Maurer ungleiche Grauwacken aus den lokalen Steinbrüchen in die aus damaliger Sicht monumentale Architektur verwandelten. »Charakteristisch für die Karolinger ist der mit Ziegelmehl angereicherte Mörtel«, erklärt Ley. Das Pulver färbte den Putz rosa, wie es auch im byzantinischen Mauerwerk gängig war, sorgte aber vor allem für hohe Festigkeit.
Und was barg der Turm? Immerhin ist das Gebäude, das aus Sicherheitsgründen nur einmal im Jahr für die Öffentlichkeit begehbar ist, ein echtes, unverfälschtes Relikt aus Karls Zeiten. »Vergessen Sie, was in Wikipedia steht«, warnt Ley. »Das war nicht Karls Wohnturm, denn alle Räume sind unbelichtet, und eine bisher vermutete Heizung oder gar Toilette gab es auch nicht.« Für einen Wehrturm mit Schießscharten lagen die Fenster zu hoch; für eine geheime Schatzkammer, die Historiker hier vermuteten, taugten die Türen nicht. Möglicherweise war der Turm ein überdimensioniertes, prachtvolles Treppenhaus – das erste seiner Art in Mitteleuropa.
Heerscharen von Handwerkern müssen auf Karls Baustellen am Werk gewesen sein. Bearbeitungsspuren an den Steinen bezeugen, wie sich hier ungeübte Hände abmühten,
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