Karlebachs Vermaechtnis
Stadtplan.
»Junger Freund!« Der alte Herr stand plötzlich wieder neben mir.
Ich schaute überrascht auf. »Sie sind doch eben erst in den Bus gestiegen?«
»Und wieder aus! Mir ist noch etwas eingefallen.«
»Ja?«
»Karlebach verbringt jeden Freitag, bevor der Schabbat beginnt, im Gartencafe beim Tichohaus und liest Zeitung. Sie werden ihn gleich erkennen. Er ist klein, hat eine große Nase und kaum noch Haare.« Der alte Herr lachte. »So wie wir alle in unserem Alter.« Er deutete auf die melonenförmige Kugel, die sich unter seiner Jacke abzeichnete. »Aber er hat keinen Bauch.«
»Kennen Sie Karlebach persönlich?«, fragte ich. »Wir unterhalten uns gelegentlich, so wie sich zwei alte Juden aus Deutschland unterhalten. Er geht nicht oft in Gesellschaft. Manchmal begegnen wir uns auf einem Sinfoniekonzert.« Er schmunzelte. »Karlebach hat einen großen musikalischen Sachverstand. Wenn in der Großen Synagoge ein berühmter Kantor zu Gast ist, kann man ihn sogar dort antreffen.«
Die beiden Herren am Nachbartisch erhoben sich und verabschiedeten sich mit einem »Schabbat Schalom«. Ich rutschte an ihren Tisch, denn mein Platz lag inzwischen im Schatten und dort war es empfindlich kühl. Lea fragte, ob ich noch eine letzte Bestellung aufgeben wolle. »Sperren Sie schon zu? Wir haben noch nicht einmal ein Uhr.«
»Ja, heute ist Yom Schischi, der Tag vor Schabbat, dann schließen wir früher.«
Ich bestellte einen Kaffee mit Sabra, einem süßen Likör, der im Reiseführer als wohlschmeckend empfohlen wurde. Ich sann darüber nach, wie ich mit Karlebach Kontakt aufnehmen könne, und legte mir ein paar Worte zurecht. Mir blieb nicht mehr viel Zeit.
»Herr Karlebach?« Ich stellte mich an seinen Tisch. Karlebach sah kurz hoch und vertiefte sich wieder in seine Zeitung.
»Entschuldigen Sie bitte, wenn ich Sie störe.« Karlebach blätterte geräuschvoll eine Seite um. Ich wurde unsicher und begann von Neuem. »Herr Karlebach, ich möchte sie wirklich nicht stören.« Ich räusperte mich.
Karlebachs linker Nasenflügel bebte. »Can’t you see, I’m reading my newspaper!« Er lispelte, sein R war sehr hart. Amerikanisch klang sein Englisch nicht. »I see«, nickte ich.
Karlebach beachtete mich nicht. Er leerte sein Glas Rotwein und winkte Lea.
Ich musste alles auf eine Karte setzen. »Excuse me. I come from Merklinghausen«, sagte ich und fügte hinzu, dass ich ein Freund von Opa Bernhard gewesen sei. Karlebach hängte sich sein Sakko über die Schulter und drückte Lea ein paar Scheine in die Hand. Die Hemdsärmel waren hochgekrempelt. In seinen Unterarm war eine mehrstellige Nummer tätowiert.
»Schabbat Schalom«, sagte er zu Lea. Mich würdigte er keines Blickes.
Mein Kaffee mit Sabra war inzwischen kalt geworden. Das nächste Mal würde ich ihm sogar ein abgestandenes und lauwarmes Bier vorziehen. Ich war inzwischen der letzte Gast und fühlte mich wie morgens um vier in einer leeren Kneipe.
»Herr Karlebach spricht nicht gerne mit Fremden«, sagte Lea, während ich die Rechnung bezahlte. Ich gab ein gutes Trinkgeld. »Nicht, wenn sie wie du aus Deutschland kommen und keine Juden sind.« Lea steckte das Geld in ihr Portemonnaie. »Nächste Woche am Schischi ist er wieder hier. Vielleicht hast du dann mehr Glück.« Ich zog meinen Pullover über. Eine kalte Brise wehte durch den Garten, dunkle Wolken verdüsterten den Himmel. »Pack dich wann ein«, sagte Lea. »Iis soll Schnee gehen.« Ich schlenderte in mein kleines Hotel nahe der Via Dolorosa in der arabischen Altstadt von Jerusalem. Es hatte nur fünf Zimmer, ein kleines Foyer und war ziemlich heruntergekommen. Aber es war billig und damit genau richtig für mich. Ich war der einzige Gast und froh darüber, ein Dreibettzimmer für mich allein zu haben. Ahmed, der Hotelbesitzer, lümmelte im Empfangsraum auf dem Sofa und schaute im jordanischen Fernsehen einen Spielfilm. »Kalt draußen«, begrüßte er mich in seinem holprigen Englisch und bot mir eine Tasse Tee an.
Ich setzte mich zu ihm und aß eine Falafel, die ich mir von einem Stand mitgebracht hatte. Die weibliche Hauptperson der dramatischen Liebesgeschichte, deren Inhalt ich auch ohne arabische Sprachkenntnisse verstehen konnte, hatte dunkle Augen wie Simona. Zwei Männer, einer still und schüchtern, der andere ein derber Kraftprotz, buhlten um die Gunst der arabischen Schönheit. Alles deutete darauf hin, dass sich die Schöne dem Kraftmeier zuwenden würde. Ich konnte das
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