Karlebachs Vermaechtnis
Zweite bei, »geh zur Westmauer und mach ihnen den Vorschlag. Vielleicht hört dir ja einer von den hohen Herren da oben zu.« Er deutete mit seinem Gewehr zum Himmel.
»Geh ins Russische Viertel«, sagte der Erste, »dort hat immer was offen.«
Ich ließ mir den Weg beschreiben und gelangte schließlich in eine überfüllte Disco. Schon vor der Tür hatten sich Trauben von jungen Leuten versammelt, Kurzgeschorene und Langhaarige, Mädchen in ultraknappen Röcken und engen Blusen, junge Frauen in Armee-Uniform, ihre Waffen lässig über die Schulter gehängt, Machos, die vor Kraft kaum laufen konnten und mitten in der Nacht eine Sonnenbrille trugen, einige Europäer und Amerikaner. Nachdem ich bei einem breitschultrigen Türsteher meinen Eintritt bezahlt hatte, bahnte ich mir den Weg zur Theke und suchte mir einen freien Hocker. Bei einer Kellnerin, die in dem Flicker-Flacker-Licht und durch den Zigarettenqualm aussah wie Lea, verlangte ich ein Bier. »Ich habe Pause«, rief sie zurück.
Es war Lea. Als auch sie mich erkannt hatte, winkte sie mich in einen Nebenraum.
»Laut, heiß und voll hier«, stöhnte sie und drückte mir eine Flasche Goldstar in die Hand. »Geht auf Kosten des Hauses.«
»Arbeitest du hier öfter?«, fragte ich. »Nur wenn ich Geld brauche. Ich will im Sommer für ein paar Wochen nach Europa, da muss ich schon jetzt sparen.«
»Du sprichst gut deutsch«, sagte ich. »Danke. Die Eltern meiner Mutter stammen aus Deutschland. Als ich klein war, hat mir meine Großmutter deutsche Märchen erzählt. Von den Gebrüdern Grimm. Rotkäppchen und der böse Wolf, Schneewittchen und die sieben Zwerge, Hänsel und Gretel. Meine Großmutter hat immer Heimweh nach Deutschland gehabt. Sie ist 1939 aus Dresden eingewandert und hat hier meinen Großvater geheiratet, einen Berliner. Beide waren sie Zionisten.«
»Und dein Vater?«
»Hasst eigentlich alle Deutschen«, lachte Lea. »Aus Prinzip!« Sie nahm einen Schluck aus meiner Bierflasche. »Er ist eine Mischung: Vater Franzose, Mutter aus Marokko. In Paris geboren. Wenige Stunden vor dem Einmarsch der Deutschen. Da hat er einen Schock fürs Leben bekommen.«
»Und was bist du?«
Lea wurde wieder ernst. »Ich bin in Nahariya, in Nordisrael geboren. Dort lebte eine große Kolonie von Jeckes. Meine Großmutter hat mich Deutsch gelehrt, mein Vater Französisch. Ich spreche Hebräisch und Englisch und etwas Arabisch. Was bin ich? Ich bin Israelin!« Sie reichte mir eine neue Bierflasche. »Aber jetzt bin ich dran mit Fragen. Was führt dich nach Israel?«
»Ich bin wegen Schlomo Karlebach hier«, antwortete ich. »Wegen Herrn Karlebach?«
Ich erzählte ihr die Geschichte vom Judenhaus. Als ich geendet hatte, schwieg sie nachdenklich. »Herr Karlebach ist ein lieber und großzügiger Mensch«, sagte sie dann. »Sehr charmant, aber er ist nicht einfach. Er hat viel mitgemacht. Zu viel für ein Leben.«
»Was weißt du über ihn?«
»Er ist ein Überlebender. Er war in den Vernichtungslagern in Majdanek und Mauthausen und hat die Schoa überlebt. Dann ist er durch die ganze Welt gezogen. Und seit zehn Jahren wohnt er in Jerusalem. Alleine. Im jüdischen Viertel der Altstadt besitzt er ein kleines Appartement. Obwohl er kein Religiöser ist. Und jeden Freitagmorgen verbringt er in unserem Cafe und liest Zeitung oder trifft sich mit Bekannten. Mehr weiß ich nicht.«
»Meinst du, er wird mit mir reden?«
»Ich weiß nicht. Du musst versuchen, sein Vertrauen zu gewinnen. Wie lange willst du bleiben?«
»So lange mein Geld reicht. Aber spätestens Mitte März will ich zurück sein, denn meine Geschichte muss noch vor den Wahlen erscheinen.«
Nach vielleicht drei Stunden Schlaf erwachte ich in meinem Hotelzimmer. Höllische Schmerzen plagten mich. Zunächst glaubte ich, es sei Muskelkater vom ungewohnten Tanzen, doch dann entdeckte ich, dass sich eine kleine Wunde an meinem linken Fuß entzündet hatte. Ich war am Roten Meer in eine Scherbe getreten, hatte der Verletzung jedoch keine weitere Bedeutung beigemessen. Da ich gleich nach dem Aufstehen ins American Colony wollte, um mit Mr. Heller zu sprechen, fragte ich Ahmed nach einer Salbe und einem Pflaster. Er ließ sich die Wunde zeigen, betrachtete den geschwollenen Fuß, runzelte sorgenvoll die Stirn und versuchte mir gestenreich zu verdeutlichen, dass ich unbedingt einen Arzt aufsuchen müsse. Er schlurfte zum Telefon und sprach lautstark in die Muschel. Dann reichte er mir einen Zettel, auf den er
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