Karriere oder Jakobsweg? Wegezeit - Wendezeit. Mein Weg nach Santiago De Compostela
modernen Zivilisation einen deutlichen Einschnitt in die Natur vorgenommen und bot einen zum Teil hässlichen Anblick. Einzig der Río Valcarce war ein Lichtblick. Er schlängelte sich gut sichtbar durch den Laubwald neben der Straße. Ich wünschte mir dort unten einen Pfad, mitten durch das dichte Grün, das Gluckern und Glucksen des Flusses in meinen Ohren; stattdessen atmete ich Abgase ein und Motorengeräusche pfiffen mir um die Ohren. Deswegen bedauerte ich zwischendurch immer wieder, dass ich nicht die Alternativroute, den sogenannten »camino duro« (wörtlich übersetzt: harter Weg) gegangen war. Ich hatte darauf verzichtet, obwohl er landschaftlich wunderschön sein soll, weil ich mir mit meinem Bein diese durch die großen Höhenunterschiede anspruchsvolle Etappe nicht zutraute. Wahrscheinlich war es wirklich besser so, auch wenn ich jetzt genervt war.
Gegen Mittag klarte es auf und die Sonne kam sogar heraus, meine schnell getrocknete Regenkleidung wanderte in den Rucksack. Zudem führte der Weg endlich weg von der Nationalstraße, nach Portela de Valcarce machte es wieder Spaß zu wandern. Jetzt wanderte ich erneut von einem Örtchen zum anderen, mitten durch das grüne Tal des Río Valcarce. Ursprünglich hatte ich vor, in Vega de Valcarce zu übernachten, 22 Kilometer wäre ich dann gelaufen. Eine vernünftige Distanz, doch dort angekommen, zog es mich weiter. Ich fühlte mich dort nicht wohl. Vielleicht lag es auch an der großen Reisegruppe, die dort gerade Station machte und das Zentrum des kleinen Dorfes bevölkerte. Es waren Deutsche. Auf einen großen Pulk hatte ich keine Lust, vor allem, wenn ich jedes Wort verstehen konnte. Mir war nicht nach Kollektiv zumute, sondern nach ruhiger Individualität. Also beschloss ich weiterzugehen. Außerdem kreisten mir schon den ganzen Tag zwei Wörter durch den Kopf: »La Faba«. Bis zu diesem kleinen Weiler waren es noch weitere zehn Kilometer, eine Tatsache, die ich eigentlich nicht ignorieren durfte. Es gelang mir nicht, vernünftig zu sein. La Faba, letzte Station vor dem O Cebreiro, hatte eine Herberge, die von einer deutschen Pilgergesellschaft geführt wurde und als ehemaliges Pfarrhaus direkt neben einer Kirche lag. Das reizte mich. Ich redete mir zwar ein, nur so weit zu gehen, wie ich es verantworten konnte. Schmerzen aufgrund von Überanstrengung kamen natürlich auf keinen Fall in Frage, deswegen machte ich immer wieder ausgiebig Rast. Ich kehrte sogar in einem netten Landhotel ein, das einsam am Weg gelegen einen herrlichen Blick über eine Talsenke bot. Hier kam ich mir zum ersten Mal mit meinem Rucksack etwas deplatziert vor, dennoch konnte ich die elegant-gemütliche Atmosphäre genießen. Ich beobachtete die anderen Gäste, die sich von Pilgerreisenden sehr unterschieden. Einige Herren trugen trotz ländlicher Umgebung Anzug und manche Damen stöckelten auf hohen Absätzen herein. Sie nippten an Sherry oder sonstigen Aperitifen, vor mir stand dagegen ein großes Cerveza con limón.
Am späten Nachmittag erreichte ich La Faba. Bis dorthin war es auf den letzten Kilometern sehr anstrengend gewesen, aber das hatte mich doch nicht abhalten können. Dichte Laubwälder und saftige Wiesen wechselten sich ab, ausgetrampelte Pfade und zum Schluss ein gerölliger, steiniger und sehr steiler Aufstieg auf über 900 Höhenmeter lagen bei meiner Ankunft in der Herberge hinter mir. Ich war zwar verschwitzt und müde, aber Schmerzen verspürte ich nicht. Die Herberge war toll, sehr sauber, mit einem geräumigen Schlafsaal und guter sanitärer Einrichtung. Der große Gemeinschaftsraum war mit einer komfortablen Küchenzeile ausgestattet, man konnte selbst kochen. Ich sah viele mir unbekannte Pilger, kein einziges wohlvertrautes Gesicht. Es machte mir nichts aus, im Gegenteil, neue Leute, neue Eindrücke. Der Schlafsaal war ein einziger sehr großer Raum, der aber durch nach oben offene Wände in kleinere Nischen aufgeteilt war. Ich packte meinen Rucksack in einer aus, in der ein unteres Bett bereits belegt war. Der Pilger - nach der Kleidung zu urteilen, handelte es sich um einen Mann - war nicht zu sehen. Als ich einige Zeit später vom Duschen kam, stand plötzlich Hans-Jakob vor mir! Ich hatte mir ausgerechnet die Nische ausgesucht, in der er sich schon eingerichtet hatte. Welcher Zufall! Oder vielleicht doch keiner? Wieso hatte ich seine Sachen nicht erkannt? Seine sehr prägnant aussehende Isomatte fehlte. Er hatte sie in einer der letzten Herbergen
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