Karrieresprung
schlucken.
Als Frau Klabundes klagendes Schluchzen selbst durch die geschlossene Tür drang, suchte er Zuflucht in 101.
Dort saßen Löffke, Dr. Hübenthal und Frau Meyer-Söhnkes betroffen um den kleinen Couchtisch zusammen. Die Stimme des Seniors war leise und brüchig. – Dreiundfünfzig, mein Gott, kein Alter – verschwendetes Leben – verlorenes Leben. Selbst schon zweiundsechzig. Keine Spuren hinterlassen, die von Dauer sind. Kanzlei aufgebaut – was bleibt davon? Sie schwiegen trauernd, gemeinsam, gleich wie nie, Sozien der Trauer.
»Wir übernehmen die Kosten der Beerdigung«, schlug Knobel vor, Schuld abtragend, wiedergutmachend. »Das Mindeste, was wir tun können.«
Sie beschlossen es einstimmig. Der Tod veränderte.
Schweigend gingen sie auseinander. Knobel zog sich in 307 zurück und entwarf eine Todesanzeige für die Tageszeitung. Eine persönliche Anzeige für einen zu spät erkannten Freund, in die Ewigkeit nachgesandte Nähe, posthume Treue. Knobel malte zitternd Worte aufs Papier, auf Endreime bedacht, Vergangenheit und Zukunft klammernd, Verbundenheit auf Dauer, Andenken auf ewig bewahrend. Seine Worte wirkten blass und trotz Steigerungsform dürftig.
Das Telefon riss ihn aus den brüchigen Versen.
Frau Klabundes brüchige Stimme verband ihn mit Weinsteins Anwalt.
»Herr Kollege Knobel?«
Die schnarrende Stimme klang fordernd.
»Ja?«
»Das Urteil des Landgerichts in der Sache Weinstein gegen Rosenboom ist mittlerweile rechtskräftig.«
Die schnarrende Stimme wurde schärfer.
»Und Ihr Herr Mandant hat immer noch nicht gezahlt. Ich gebe ihm letzte Gelegenheit, bis zum Ende der kommenden Woche zu zahlen. Ansonsten werde ich Herrn Weinstein empfehlen, die Zwangsvollstreckung aus dem Urteil zu betreiben.«
Knobel versicherte, dass es sich nur um ein Versehen handeln könne und er Rosenboom zur sofortigen Zahlung auffordern werde. Im Übrigen gehe im Moment wegen eines Todesfalles in der Kanzlei alles durcheinander.
»Oh …«
Schlagartig verlor die Stimme des anderen an Schärfe. Übergangslos erkundigte sie sich teilnahmsvoll.
»Ich habe Kollege Reitinger gestern Abend noch gesehen«, sagte der Kollege. »Er wohnt doch fast um die Ecke. – Wirklich, gestern habe ich ihn noch gesehen. Vielleicht hat ihn danach niemand mehr gesprochen …«
Frau Klabunde verband Knobel schwermütig mit einer Mandantin.
»Neue Sache, eine Frau Audero.«
Knobel horchte. Am anderen Ende der Leitung kicherte Marie.
»Mein Tarnname. Audero steht für Aufklärung der Erpressung Rosenboom .«
Er hielt strafende Distanz, berief sich auf den Todesfall und hängte Marie ab.
28
Knobel hatte Zimmer 102 zunächst mit scheuer Ehrfurcht in Besitz genommen und sich dann um so entschlossener dort eingerichtet, gleichwohl er nicht abließ zu betonen, dass nichts das Geschehene ungeschehen machen könne.
Frau Klabunde hatte die Bücherregale auf Knobels Bitte leer geräumt und ausgewischt, während sie weinend ihren Erinnerungen nachtrauerte.
Knobel ließ ihr Zeit und drückte ihr ein Belegexemplar von Dr. Reitingers Dissertation Das antizipierte Besitzkonstitut in die Hand, damit sie etwas von ihm behalte.
Frau Klabunde nahm es, dankte und schluchzte auf.
Knobel behielt die Bücher, die in Dr. Reitingers Büro standen. Er ordnete sie anders und gruppierte nach Farben. Aus 307 nahm er nur wenig mit, vor allem das mit seinen goldgeprägten Einbänden imposante mehrbändige amerikanische Anwaltsverzeichnis von Martindale/Hubbel . Der Schreibtischsessel mit hoher Rückenlehne war ein wesentlicher Fortschritt gegenüber dem quietschenden und ächzenden Gefährt im Mansardenbüro. In dem neuen Sessel reichte die breite lederne Lehne bis an den Hinterkopf. Der große aufgeräumte Schreibtisch offenbarte seine jahrelang unter den Aktenbergen verborgen gebliebene elegante buchene Oberfläche. Einzig die Schreibtischunterlage erwarb er neu, weil die alte verkratzt war und den gediegenen Gesamteindruck störte. Halbkreisförmig gruppierte er Diktiergerät, Telefon, Schreibgerät und Notizblock um die schwarzlederne Unterlage. Dann hielt er einige Minuten inne und antizipierte, wie er in diesem Büro repräsentieren würde. Erstmals war ihm mit Frau Klabunde eine eigene Sekretärin zugeordnet. Sie würde die Mandanten in sein Büro führen und auf Wunsch Kaffee und Gebäck servieren. Dieses Büro, obwohl in Größe und Ausstattung mit demjenigen Dr. Hübenthals trotz allem nicht vergleichbar, war das letzte
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