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Kartiks Schicksal

Kartiks Schicksal

Titel: Kartiks Schicksal Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Libba Bray
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aufgeben?«
    »’türlich«, sagt Brigid und steckt den Brief in ihre Schürzentasche.
    »Das wär’s also«, sage ich.
    »Ja. Das wär’s.«

33. Kapitel
    Mehrere Tage vergehen und noch immer keine Spur von Kartiks Halstuch. Ich mache mir Sorgen, dass ihm etwas zugestoßen ist. Ich mache mir Sorgen, dass ich ihm bei seiner Rückkehr in Bezug auf Amar nicht werde helfen können. Ich mache mir Sorgen, dass er überhaupt nicht zurückkommen wird, sondern bereits auf der Orlando ist.
    Vor lauter Sorgen bin ich in einer rabenschwarzen Stimmung. Wir mussten schon die Demütigung über uns ergehen lassen, rückwärts zu schreiten, wie wir es tun werden, wenn wir Ihrer Majestät im Sankt-James-Palast präsentiert werden. Ich bin zweimal gestolpert und ich kann mir nicht vorstellen, wie ich es mit der über meinen linken Arm gelegten langen Schleppe meines Kleides und mit vor meiner Königin gesenktem Kopf schaffen soll. Ich bekomme Magenschmerzen, wenn ich nur daran denke.
    Mrs Nightwing hat uns aufgefordert, am Tisch des Speisesaals Platz zu nehmen. An jedem unserer Plätze ist eine entmutigende Menge Silberbesteck angeordnet. Suppenlöffel. Austernzangen. Fischmesser. Fischgabeln. Buttermesser. Dessertlöffel. Halb erwarte ich, eine Walfang-Harpune zu entdecken.
    Mrs Nightwing hält uns einen Vortrag. Es fällt mir schwer aufzupassen und ich fange nur den einen oder anderen Satzfetzen auf. »Der Fischgang … die Gräten an den Tellerrand … und übrigens, Buttermilch pflegt die weichen Hände einer Dame …«
    Die Vision überfällt mich ganz plötzlich. Im einen Moment dringt Mrs Nightwings Stimme an meine Ohren, im nächsten steht die Zeit still. Mrs Nightwing ist an der Seite von Elizabeth zur Salzsäule erstarrt. Felicitys Augen sind mit einem Blick maßloser Langeweile an die Decke geheftet. Auch Cecily und Martha sind mitten in der Bewegung erstarrt.
    Wilhelmina Wyatt steht in der offenen Tür. Ihr Gesicht zeigt einen grimmigen Ausdruck.
    »Miss Wyatt?«, rufe ich. Ich stürze ihr nach, meine reglosen Gefährtinnen am Tisch zurücklassend.
    Sie steht am oberen Ende der ersten Treppenflucht, doch als ich den Treppenabsatz erreiche, tritt sie durch das Porträt von Eugenia Spence und verschwindet wie ein Geist.
    »Miss Wyatt?«, flüstere ich. Plötzlich bin ich allein. Das Gemäuer des Schulgebäudes selbst scheint mir zuzuraunen. Ich halte mir die Ohren zu, aber das gespenstische Geflüster, das dumpfe Gemurmel, das Gezischel lassen sich nicht aussperren. Die Pfauentapete an den Wänden wird lebendig, die Augen blinzeln.
    Wilhelminas dünne Schrift taucht auf dem Porträt von Eugenia Spence auf: Der Baum Aller Seelen. Der Baum Aller Seelen. Der Baum Aller Seelen. Sie füllt das ganze Gemälde aus. Das Geflüster wird lauter. Ich lege meine Hand auf das Gemälde und es ist, als falle ich mitten hindurch in eine andere Zeit und an einen anderen Ort.
    Ich befinde mich im Marmorsaal, aber dieser hat sich verändert. Ich sehe ein junges Mädchen – es muss Sarah Rees-Toome alias Circe sein – mit einem grüblerischen, konzentrierten Gesichtsausdruck. Ein Mädchen mit bestürzend grünen Augen lächelt sie an und es gibt mir einen Stich, als ich meine Mutter erkenne.
    »Mama?«, rufe ich, aber sie hört mich nicht. Es ist, als sei ich nicht wirklich hier.
    Eine ältere Frau mit weißem Haar und blauen Augen sitzt bei ihnen und ich erkenne auch sie. Eugenia Spence. Das Gesicht, das auf ihrem Porträt so einschüchternd wirkt, ist hier freundlich. Mit roten Wangen und sprühend vor Leben.
    Ein Mädchen bringt ihr einen Apfel und Mrs Spence lächelt. »Oh, danke, Hazel. Ich werde ihn mit Appetit genießen. Oder soll ich ihn in Stücke schneiden und unter uns allen aufteilen?«
    »Nein, nein«, protestiert das Mädchen. »Er ist für Sie. Zu Ihrem Geburtstag ! «
    »Also gut. Vielen Dank. Ich liebe Äpfel.«
    Ein kleines Mädchen weit hinten hebt schüchtern die Hand.
    »Ja, Mina?«, ruft Mrs Spence.
    Jetzt sehe ich im Gesicht des Mädchens Spuren der Frau. Die kleine Wilhelmina Wyatt kommt langsam nach vorn und überreicht ihrer Lehrerin ein persönliches Geschenk, ein selbst gemaltes Bild.
    »Was ist das?« Mrs Spence betrachtet das Bild und ihr Lächeln schwindet. Das Bild zeigt haargenau den Baum, den ich in meinen Träumen gesehen habe. »Wie bist du darauf gekommen, das zu malen, Mina?«
    Wilhelmina lässt beschämt den Kopf hängen.
    »Komm schon. Du musst es mir sagen. Lügen ist eine Sünde und ein schlechtes

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