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Kartiks Schicksal

Kartiks Schicksal

Titel: Kartiks Schicksal Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Libba Bray
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Zeugnis für den Charakter eines Mädchens.«
    Ich höre das Kratzen der Kreide, als Wilhelmina auf die Schiefertafel schreibt und die Worte langsam Gestalt annehmen: Der Baum Aller Seelen.
    Hastig nimmt Mrs Spence die Kreide aus den Fingern des Mädchens. »Das genügt, Mina.«
    »Was ist der Baum Aller Seelen?«, fragt eines der älteren Mädchen.
    »Eine Sage«, antwortet Eugenia Spence und wischt die Schiefertafel mit einem Lappen sauber.
    »Er ist in der Winterwelt, nicht wahr?«, fragt Sarah. In ihren Augen ist ein boshaftes Glitzern. »Ist er sehr mächtig? Wollen Sie es uns nicht erzählen, bitte?«
    »Alles, was Sie im Augenblick wissen müssen, steht in Ihrem Lateinbuch, Miss Rees-Toome«, sagt Mrs Spence in scherzhaftem, aber bestimmtem Ton.
    Sie wirft das Bild ins Feuer und Tränen strömen aus Minas Augen. Die anderen Mädchen kichern über sie. Mrs Spence hebt mit ihrem Finger das Kinn der Kleinen. »Du kannst mir ein neues Bild malen, hmmm? Vielleicht eine liebliche Wiese oder ein Bild von Spence. Nun trockne schon deine Tränen. Und du musst versprechen, ein braves Mädchen zu sein und nicht auf Stimmen zu hören, auf die du nicht hören solltest, denn jeder kann irregeleitet werden, Mina.«
    Die Szene verwandelt sich und ich sehe Wilhelmina, die einen juwelenbesetzten Dolch aus einer Schublade nimmt und in ihre Tasche steckt. Ihr Körper verändert sich mit den Jahren, bis die erwachsene Wilhelmina wieder vor mir steht, mit dem Dolch in der Hand. Ihr Gesicht ist vor Wut verzerrt. Sie hebt den Dolch.
    »Nein«, schreie ich. Ich hebe die Hand, um den Dolchstoß abzuwehren.
    Als ich im Speisesaal wieder zu mir komme, schreie ich immer noch. Alle starren mich erschrocken an. Schmerz. In meiner Hand. Blut rinnt aus meiner Handfläche auf die Damasttischdecke. Das Messer auf meinem Teller. Ich habe es so fest umklammert, dass ich mich geschnitten habe.
    »Miss Doyle!«, ruft Mrs Nightwing erschrocken. Sie drängt mich rasch in die Küche, wo Brigid Verbandszeug und Salbe aufbewahrt.
    »Lassen Sie sehen«, sagt Brigid. Sie spült meine Hand ab. Es brennt. »Nicht zu tief, Gott sei Dank. Nicht mehr als ein Kratzer. Das werden wir gleich haben.«
    »Wie ist das passiert, Miss Doyle?«, fragt Mrs Nightwing.
    »Ich … ich weiß nicht«, antworte ich wahrheitsgemäß.
    Mrs Nightwing hält meinen Blick eine Spur länger fest, als es mir angenehm ist. »Nun ja, ich kann nur hoffen, dass Sie in Zukunft besser aufpassen werden.«
    *
    Felicity und Ann warten im Zimmer auf mich. Felicity hat mein Bett in Beschlag genommen und sich Stolz und Vorurteil geschnappt. Als sie mich sieht, lässt sie das Buch fallen wie einen ihrer Freier.
    »Geh gefälligst sorgfältig damit um.« Ich hebe das arme Buch auf, glätte seine zerknitterten Seiten und stelle es ins Regal zurück.
    »Was zum Teufel ist passiert?«, fragt Felicity.
    »Ich hatte eine sehr starke Vision«, sage ich. Ich berichte ihnen, was Wilhelmina Wyatt mir gezeigt hat, die Szene im Marmorsaal. »Ich glaube, sie wollte mir mitteilen, dass der Baum Aller Seelen tatsächlich existiert. Ich denke, sie will, dass wir ihn für sie finden. Die Zeit ist reif, in die Winterwelt zu gehen.«
    Felicity setzt sich auf. Ihre Augen leuchten. »Wann?«
    »So bald wie möglich«, antworte ich. »Heute Nacht.«
    *
    Im Wald patrouilliert einer von Mr Millers Männern. Wir sehen ihn mit seiner Pistole auf und ab gehen. Er ist sprungbereit wie eine Katze.
    »Wie kommen wir zum Tor, ohne gesehen zu werden?«, fragt Ann.
    Ich konzentriere mich und plötzlich erscheint im Wald das Phantom einer Frau. Ihr geisterhafter Anblick erschreckt den Mann zu Tode. »W-wer ist da?« Zitternd richtet er die Pistole auf sie. Sie duckt sich hinter einen Baum und taucht ein Stück weiter wieder auf.
    »S-Sie werden meinem Chef Rede und Antwort stehen«, sagt der Mann. Er folgt ihr vorsichtig mit einigem Abstand und sie führt ihn in Richtung Friedhof, wo sie verschwinden und ihn ratlos zurücklassen wird. Und während er sich noch über die rätselhafte Erscheinung den Kopf zerbricht, werden wir längst im Magischen Reich sein.
    »Kommt«, sage ich und stürze zu dem geheimen Tor.
    Felicity folgt mir grinsend. »Oh, das gefällt mir.«
    Auf der anderen Seite begrüßen uns die Steinreliefs der Frauen. Doch die Antwort, die ich suche, können sie mir nicht geben. Nur eine Person kann das, so ungern ich es auch zugebe.
    »Ihr geht weiter zur Burg. Ich komme später nach.«
    »Was soll das heißen? Wo

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