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Kartiks Schicksal

Kartiks Schicksal

Titel: Kartiks Schicksal Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Libba Bray
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Hand an das Gefüge der Pfähle. Sie sind glatt.
    »Knochen«, flüstert die Elfe.
    Ich halte die Fackel hoch. Das Licht fängt die Umrisse eines großen Knochens ein, vielleicht ein Bein. Ich springe davor zurück. Die Knochen sind mit aus Haaren geflochtenen Seilen zusammengefügt. Rot blühende Schlinggewächse haben sich zwischen den Knochen emporgerankt und sehen wie klaffende Wunden aus. Es ist ein makaberer Anblick.
    Die Elfe kichert über mein Entsetzen. »Für eine so mächtige Zauberin bist du ganz schön furchtsam.«
    »Wie kommen wir hinein?«, fragt Mercy. Ihr Gesicht ist in tiefe blaue Schatten getaucht.
    Das Elfenwesen fliegt dicht vor meiner Nase. »Das Tor ist ganz nahe. Ihr müsst es erfühlen.«
    Wir tasten mit den Händen über die Gebeine nach einem Eingang. Dabei dreht sich mir der Magen um und ich möchte am liebsten sofort umkehren.
    »Ich hab’s gefunden!«, ruft Pippa.
    Wir scharen uns um sie. Das Tor hat ein aus einem Brustkorb gefertigtes Schloss. Die spitzen Enden der Rippen sind so ineinander verkeilt, dass unmöglich zu erkennen ist, wo die eine Rippe endet und die andere anfängt. Das Erschreckendste von allem aber ist ein Herz, das dahinter schlägt.
    »Was ist das?«, ruft Ann.
    »Der Eingang«, antwortet die Elfe. Sie flattert in die Nähe des schlagenden Herzens und wieder zurück. »Antwortet ihm ehrlich«, warnt sie. »Sonst lässt das Tor euch nicht ein.«
    »Wollt ihr in die Winterwelt eintreten?«
    Die Stimme ist zart wie ein Hauch und ich bin mir gar nicht sicher, ob ich sie wirklich vernommen habe.
    »Habt ihr das gehört?«, frage ich.
    Die Mädchen nicken. Das Herz leuchtet tiefrot wie eine entzündete Wunde.
    Die Stimme fragt wieder: »Wollt ihr in die Winterwelt eintreten?«
    Das Herz spricht zu uns.
    »Ja«, antwortet Pippa. »Wie können wir hineinkommen?«
    »Verratet uns eure Geheimnisse«, flüstert das Herz. »Verratet uns den sehnlichsten Wunsch eures Herzens – und dessen größte Furcht.«
    »Das ist alles?«, fragt Bessie spöttisch.
    »Das ist alles«, sagt das elfenhafte Wesen.
    Bessie macht den Anfang. »Mein sehnlichster Wunsch ist es, eine Dame zu sein. Und ich fürchte mich vor Feuer.«
    Ein gewaltiger, kalter Windstoß fährt aus der Winterwelt. Die Gebeine klappern im Wind. Das Herz pocht rascher und brennt hell in der Düsternis. Die Rippen des Brustkorbs teilen sich. Ein riesiges Tor schwingt auf.
    »Du kannst eintreten«, sagt das Herz zu Bessie. Bessie schreitet hindurch und das Tor fällt hinter ihr wieder zu.
    »Das war nicht so schwer«, sagt Felicity. Sie tritt als Nächste ans Tor. »Mein Wunsch ist es, stark und frei zu sein.«
    »Und deine Furcht?«, fragt das Herz.
    Felicity schweigt einen Moment. »Gefangen zu sein.«
    »Nicht ganz ehrlich«, entgegnet das Herz. »In dir ist noch eine Furcht, größer als alle anderen. Eine Furcht, die als Wunsch getarnt ist; ein Wunsch getarnt als Furcht. Willst du sie nennen?«
    Felicity wird merklich blass. »Ich weiß nicht, was du meinst.«
    »Du musst ehrlich antworten!«, zischt die Elfe.
    Das Herz spricht wieder. »Soll ich deine Furcht nennen?«
    Felicity schwankt ein bisschen und ich kann mir nicht denken, was sie so erschreckt.
    »Du fürchtest die Wahrheit über dich selbst. Du fürchtest, dass sie herausfinden, wer du wirklich bist.«
    »Richtig. Du hast es gesagt; jetzt lass mich hinein«, befiehlt Felicity. Das Tor schwingt wieder auf.
    Und so geht es der Reihe nach weiter. Die Mädchen gestehen ihre Sehnsüchte und ihre Ängste, eine nach der anderen: einen Prinzen zu heiraten, allein zu sein, ein liebevolles Zuhause mit Blumen entlang des Wegs, die Dunkelheit, ein nie endendes Bankett, Hunger. Pippa gibt zu, dass sie fürchtet, ihre Schönheit zu verlieren. Als sie ihren sehnlichsten Wunsch äußert, blickt sie mich direkt an. »Ich möchte wieder zurück.« Und das Tor öffnet sich weit.
    Ann flüstert vor Scham, bis das Tor sie bittet, lauter zu sprechen.
    »Alles. Ich fürchte mich vor allem«, sagt sie und das Herz seufzt.
    »Du kannst eintreten«, sagt es.
    Endlich bin ich an der Reihe. Das Herz des Tores pocht erwartungsvoll. Mein eigenes Herz klopft ebenso wild.
    »Und du? Was fürchtest du am meisten?«
    Circe hat mir eindringlich klargemacht, ich müsse ehrlich antworten, aber ich weiß nicht, was ich sagen soll. Ich furchte, dass mein Vater nicht gesund wird. Ich fürchte, dass Kartik sich nichts aus mir macht, und das Gegenteil fürchte ich genauso. Ich fürchte, dass ich nicht

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