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Kartiks Schicksal

Kartiks Schicksal

Titel: Kartiks Schicksal Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Libba Bray
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diesen Schatten dort?« Da ist nichts außer dem verschwommenen Umriss von Vaters erhobenem Arm. »Ich habe ihn erschossen, weißt du.«
    »Nein, Papa«, sage ich. Er fröstelt. Ich ziehe die Laken bis zu seinem Hals herauf, aber er schiebt sie wieder hinunter.
    »Er war dort draußen, verstehst du? Ich konnte nicht leben … mit dieser Bedrohung. Ich dachte, ich hätte ihn getötet, aber er ist zurückgekommen. Er hat mich gefunden.«
    Ich betupfe seine Stirn mit einem feuchten Lappen. »Schhh.«
    Seine Augen suchen die meinen. »Ich sterbe.«
    »Nein. Du brauchst nur Ruhe.« Heiße Tränen brennen auf meinen Wangen. Warum sind wir gezwungen zu lügen? Warum ist die Wahrheit zu grell, um sie zu ertragen?
    »Ruhe«, murmelt er und sinkt wieder in einen von Drogen umnebelten Schlaf. »Der Tiger kommt …«
    Wenn ich mutiger wäre, würde ich ihn fragen, was ich ihn seit Mutters Tod schon immer fragen wollte: Warum war seine Trauer stärker als seine Liebe? Warum konnte er daraus nicht die Kraft schöpfen, um sich zur Wehr zu setzen?
    Warum bin ich nicht genug, um dafür zu leben?
    »Schlaf, Papa«, sage ich. »Lass für heute Nacht den Tiger Tiger sein.«
    *
    Allein in meinem Zimmer bitte ich wieder einmal Wilhelmina Wyatt, sich zu zeigen.
    »Circe hat den Dolch. Ich brauche deine Hilfe«, sage ich. »Bitte.«
    Aber sie kommt nicht, wenn ich sie herbeirufe, und so schlafe ich ein und träume.
    Im Schatten eines Baumes sitzt die kleine Mina Wyatt und zeichnet den Ostflügel von Spence. Sie schraffiert den Mundwinkel eines Wasserspeiers. Sarah Rees-Toome verstellt ihr den Blick und Mina runzelt die Stirn. Sarah hockt sich neben sie.
    »Was siehst du, wenn du in die Dunkelheit blickst, Mina?«
    Schüchtern zeigt Mina ihr das Bild, das sie in ihrem Buch versteckt hat. Todesschergen. Die Toten. Die bleichen Geschöpfe, die in den Felsritzen leben. Und schließlich der Baum Aller Seelen.
    Sarah streicht liebevoll mit dem Finger darüber. »Er ist machtvoll, nicht wahr? Voller Magie. Deshalb wollen sie nicht, dass wir davon wissen.«
    Mina wirft einen Blick nach Eugenia Spence und Mrs Nightwing, die auf dem Rasen Krocket spielen. Sie nickt.
    »Kannst du mir den Weg zeigen?«, fragt Sarah.
    Wilhelmina schüttelt den Kopf.
    »Warum nicht?«
    Er wird dich fassen, kritzelt sie.
    Plötzlich bin ich im Wald der Winterwelt, wo die Verdammten von den kahlen Bäumen hängen. Die Lianen schlingen sich fest um ihre Hälse; ihre Füße baumeln. Eine Frau versucht sich zu befreien und die scharfen Ranken schneiden in ihr Fleisch, um sie festzuhalten.
    »Hilf mir«, flüstert sie mühsam, erstickt.
    Der Nebel lichtet sich und ich sehe, wie ihr Gesicht grau wird.
    Circe.

60. Kapitel
    Zwei endlose Tage lang bin ich in unserem Haus in London gefangen, ohne eine Möglichkeit, Kartik, Ann oder Felicity zu benachrichtigen. Ich weiß nicht, was im Magischen Reich vor sich geht, und ich bin krank vor Sorge. Aber jedes Mal, wenn ich den Mut fasse, die Magie heraufzubeschwören, denke ich an Circes Warnung: dass die Magie sich verändert hat, dass wir beide sie geteilt haben, dass sie an etwas Dunkles und Unvorhersehbares geknüpft sein könnte. Ich spüre, dass in den Winkeln des Zimmers drohende Schatten nisten, von Dingen, die ich vielleicht nicht kontrollieren kann, und ich schiebe die Magie tief nach unten, weit weg von mir und krieche zitternd in mein Bett.
    Ich habe nicht den Schimmer einer Idee, wie ich entkommen könnte. Ich bin dazu verurteilt, das Leben einer wohlerzogenen jungen Dame der Londoner Gesellschaft zu führen und mit Großmama Besuche zu machen. Wir trinken Tee, der zu schwach und für meinen Geschmack nie heiß genug ist. Die Damen verbringen die Zeit mit Klatsch und Tratsch. Das ist ihr Ersatz für Freiheit – Zeit und Geschwätz. Ihr Leben ist klein und behutsam. Ich wünsche mir nicht, so zu leben. Ich möchte mein Zeichen setzen. Meinungen äußern, die nicht höflich, nicht einmal korrekt sein mögen, aber eben die meinigen sind. Wenn ich für irgendetwas gehängt werden sollte, möchte ich erhobenen Hauptes zum Galgen schreiten.
    Die Abende verbringe ich, indem ich Vater vorlese. Seine Gesundheit bessert sich ein wenig – er kann über seinen Landkarten und Büchern an seinem Schreibtisch sitzen –, aber er wird nicht wieder genesen. Es wurde beschlossen, dass Vater nach meinem Debüt in ein wärmeres Klima reisen soll. »Heiße Sonne und warmer Wind – das ist’s, was er braucht«, sagen wir mit verkrampftem

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