Kartiks Schicksal
ändern, aber ich kann es nicht. Die Menschen wollen sie selbst sein und es gibt auf der ganzen Welt nicht genügend Magie, um das zu ändern.
Großmama faltet Vaters Taschentuch so klein, dass der Blutfleck nicht mehr zu sehen ist. »Dieses höllische Klima in Indien.«
»Es ist nicht das Klima. Machen wir uns nichts vor«, sage ich. Tom wirft mir einen warnenden Blick zu. Großmama schwatzt weiter. »Ich habe ihm gesagt, er soll nach England zurückkehren. Indien ist kein Aufenthaltsort für einen Engländer. Viel zu heiß …«
Ich springe von meinem Sessel auf. »Es ist nicht das verdammte Wetter!«
Sie sind vor Schreck verstummt. Ich sollte aufhören. Mich für meinen Ausbruch entschuldigen. Einen Rückzieher machen. Dem Klima die Schuld geben. Aber ich kann nicht. Etwas in mir hat sich Bahn gebrochen und lässt sich nicht wieder zurückzwingen. »Hast du gewusst, dass er wieder mit dem Laudanum angefangen hat? Dass er nicht darauf verzichten konnte? Dass unsere guten Absichten nicht halb so stark waren wie sein Wille zu sterben?«
»Gemma, bitte«, sagt Tom.
»Nein, Thomas. Ist es das, was ihr euch für mich wünscht? Dass ich mir an euch ein Beispiel nehmen soll? Scheuklappen zu tragen und über nichts zu reden, was wichtig ist, und schwachen Tee zu trinken mit Leuten, die alles tun würden, um die Wahrheit zu verbergen, besonders vor sich selbst? Nun, das werde ich nicht tun! Und ich werde nicht mehr für euch lügen.«
Großmama drückt ihren Daumen auf die weiße Fläche des zusammengefalteten Taschentuchs, um sie niederzuhalten. Plötzlich ist Großmama klein und zerbrechlich. Ich schäme mich dafür, dass ich sie so schäbig behandelt habe, und noch mehr schäme ich mich, dass ich sie für ihre Schwäche hasse. Als ich aus dem Zimmer stürme, höre ich ihre dünne, unsichere Stimme. »Es ist das Klima.«
Tom fängt mich an der Treppe ab und zieht mich in die Bibliothek. Vaters Bücher starren uns von den Regalen aus an. »Gemma, das war unfreundlich.«
Mein Blut hat sich beruhigt und mein Zorn ist nun durch Reue gezähmt, aber das braucht Tom nicht zu wissen, diese Genugtuung gönne ich ihm nicht. Ich nehme ein Buch aus dem Regal, setze mich auf einen eher unbequemen hölzernen Stuhl und schlage die Titelseite auf. Das Inferno von Dante Alighieri.
»Vaters Gesundheit ist nicht der einzige Grund, warum ich dich habe kommen lassen. Dein Betragen auf dem Ball war …« Er macht eine kurze Denkpause. »Erschreckend.«
Du hast keine Ahnung, Tom. Ich blättere die Seite um und gebe vor, an der Lektüre brennend interessiert zu sein.
»Seit dem Tag, an dem du in England angekommen bist, bist du rebellisch und schwierig. Es bedarf nur noch eines winzigen Schnitzers, den Hauch eines Skandals, und dein Ruf und deine Chancen sind für immer ruiniert.«
Zorn brandet gegen die aufgestaute Scham. »Mein Ruf«, sage ich kühl. »Ist das alles, was ich bin?«
»Der untadelige Ruf einer Frau ist ihr ganzer Reichtum, Gemma.«
Ich schnippe fest gegen eine Seite und sie reißt ein wenig ein. »Das ist falsch.«
Tom zieht einen gläsernen Korken aus einer Kristallkaraffe und gießt sich ein Glas Whiskey ein. »So ist es nun mal. Auch wenn du mich dafür hasst, dass ich es sage, es ist die Wahrheit. Hast du vergessen, dass deine Mutter deswegen gestorben ist? Sie wäre immer noch hier und Vater wäre gesund und das alles wäre nie passiert, wenn sie nach dem bewährten gesellschaftlichen Kodex gelebt hätte.«
»Vielleicht hat es sich als unmöglich erwiesen. Vielleicht konnte sie sich nicht in ein so enges Korsett zwängen.«
Vielleicht bin ich genauso.
»Man muss über die Regeln nicht glücklich sein, Gemma. Aber man muss sich an sie halten. Das ist das Wesen der Zivilisation. Glaubst du, ich bin mit jeder Regel im Bethlem-Hospital oder mit jeder Entscheidung meiner Vorgesetzten einverstanden? Glaubst du, ich würde nicht lieber nach eigenem Gutdünken schalten und walten?« Er nimmt einen Schluck Whiskey und verzieht dabei das Gesicht. »Ich hatte keine Kontrolle über Mutter, aber ich habe sie über dich. Ich werde nicht erlauben, dass du den gleichen Weg beschreitest.«
»Du wirst es nicht erlauben?«, sage ich spöttisch. »Ich wüsste nicht, was du in meinem Leben zu bestimmen hast.«
»Da irrst du dich. Nun, wo Vater krank ist, fällt die Vormundschaft über dich mir zu und ich habe die Absicht, meine Rolle sehr ernst zu nehmen.«
Eine neue Furcht schlägt in mir Wurzeln. Die ganze Zeit
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