Kartiks Schicksal
Zeit, das endlich zu akzeptieren.«
*
Als wir mit unserer Arbeit fertig sind, leeren wir das ekelhafte Wasser aus den Eimern und schleppen uns erschöpft und schmutzig ins Haus. Das Gespräch dreht sich nun um den Maskenball und die Kostüme, die wir tragen werden. Cecily und Elizabeth wollen Prinzessinnen sein. Sie wollen sich Seiden- und Brokatstoffe aussuchen, um daraus wunderhübsche Kleider schneidern zu lassen. Felicity hat sich mittlerweile entschieden, als Walküre zu gehen. Ich sage, ich möchte als Elizabeth Bennett aus Stolz und Vorurteil von Jane Austen gehen, aber Felicity meint, das sei das langweiligste Kostüm in der Geschichte der Kostüme und außerdem solle mich niemand erkennen.
»Ich hätte Cecily sagen sollen, sie soll in den See springen«, murmelt Ann.
»Warum hast du’s nicht getan?«, frage ich.
»Was wäre, wenn sie Mrs Nightwing sagt, ich hätte die Steine beschmiert? Was wäre, wenn ihr Mrs Nightwing glaubt?«
»Was wäre wenn, was wäre wenn«, sagt Felicity gereizt. »Was wäre, wenn du es einmal mit ihr aufnimmst?«
»Die haben alle Macht«, klagt Ann.
»Weil du sie ihnen überlässt!«
Ann wendet sich verletzt von Felicity ab. »Ich erwarte nicht, dass du das verstehst.«
»Nein, du hast recht. Ich werde nie verstehen, warum du dich nicht wehrst«, knurrt Felicity. »Wenn du nicht wenigstens versuchst zu kämpfen, habe ich kein Mitleid mit dir.«
*
Der Tag ist reglementiert wie der eines Soldaten. Auf Französisch folgt Musik, danach ein freudloses Mittagessen aus gekochtem Stockfisch. Der Nachmittag beginnt mit einer Tanzstunde. Wir üben Quadrille und Walzer. Da Waschtag ist, werden wir in die Waschküche geschickt, um unsere Bettlaken und Kleidungsstücke den Wäscherinnen zu übergeben, zusammen mit einem Schilling für deren Arbeit. Wir schreiben Sätze aus Charles Dickens’ Charles Nickleby ab, um unsere Schönschreibkunst zu vervollkommnen. Mrs Nightwing schreitet zwischen den ordentlichen Reihen unserer Pulte auf und ab, prüfende Blicke auf unsere Schrift werfend, Unter- und Oberlängen kritisierend, die ihrer Meinung nach nicht den Regeln entsprechen. Als es zum Ende der Stunde läutet, haben meine Augen angefangen zu schielen.
Bis der Abend hereinbricht, sind wir erschöpft. Ich war noch nie so froh, mein Bett zu sehen. Ich ziehe die dünne Decke an mein Kinn herauf, und sobald mein Kopf das Kissen berührt, falle ich in Träume, so verworren wie ein Labyrinth.
Die Frau im lavendelfarbenen Kleid winkt mir aus dem Londoner Nebel zu. Ich folge ihr in eine Buchhandlung. Sie zieht wütend Bücher aus den Regalen, bis sie dasjenige findet, nach dem sie gesucht hat. Sie klappt es auf und beginnt zu zeichnen, sie bedeckt die Seite mit seltsamen Linien und Zeichen, die mich an eine Landkarte erinnern. Sie schmiert die Seite so rasch wie möglich voll, aber wir werden von Hufgetrappel unterbrochen. Die Frau reißt die Augen vor Angst weit auf. Das Fenster knarrt unter dem Frost. Kalter Nebel kriecht durch die Ritzen in der Tür. Plötzlich fliegt sie auf. Ein scheußliches Monster in einem zerfetzten Umhang schnuppert in der Luft – ein Todesscherge der Winterwelt.
»Das Opfer …«,knurrt er.
Ich wache schlagartig auf und stelle fest, dass ich alle meine Bücher aus dem Regal gerissen habe. Sie liegen in einem Haufen auf dem Boden.
Ann murmelt mit schlaftrunkener Stimme: »Gemma, warum machst du solchen Krach?«
»Ich … ich hatte einen Albtraum. Tut mir leid.«
Sie dreht sich auf die andere Seite und kehrt zu ihren Träumen zurück. Mit wild klopfendem Herzen gehe ich daran, meine Bücher wieder einzuräumen. Die Sturmhöhe hat nur ein paar Eselsohren, aber in Jane Eyre sind mehrere Seiten zerrissen. Ich trauere darum, als wäre ich selbst verletzt und nicht Miss Eyre. Rudyard Kiplings Dschungelbuch ist zerfetzt, Miss Austens Stolz und Vorurteil verwundet, aber noch ganz. Das einzige Buch, das nicht einmal einen Kratzer davongetragen hat, ist die Geschichte der Geheimbünde von Wilhelmina Wyatt und vermutlich sollte ich dankbar sein, dass immerhin etwas meinen mitternächtlichen Tobsuchtsanfall überlebt hat.
18. Kapitel
»Ich kann’s nicht glauben, dass ich, Ann Bradshaw, Lily Trimble in ihrer besten Rolle sehen werde!«
»Ja, allerdings, du wirst sie sehen, aber nicht als Ann Bradshaw«, sage ich, während ich an meinem Toilettentisch herumhantiere. Ich setze einen einfachen Strohhut mit einem dunkelgrünen Band auf. Er macht mich nicht zu einer
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