Kartiks Schicksal
Wolken, die gegen die stummen Wasserspeier anrücken, können uns nicht erreichen.
Ohne Vorwarnung beginnt das Blut in meinen Adern zu galoppieren, bis ich nichts anderes mehr höre … dramm-drammdramm-dramm.
Auch ringsum dreht sich die Welt immer schneller. Gewitterwolken tanzen wild am Himmel. Ich blinzle und ein Kanonenschuss explodiert in meinen Ohren. Der Rabe ist auf der Flucht. Blinzel. Der Rabe lässt sich auf dem Kopf des Wasserspeiers nieder. Blinzel. Der Kopf des Wasserspeiers schwingt herum, scharf wie ein Peitschenhieb. Mein Atem stockt und in diesem Moment schnappen die spitzen Zähne des Wasserspeiers zu. Mein Kopf fühlt sich leicht an. Meine Augenlider flattern genauso wild wie die Flügel des Raben.
»Gemma …« Felicitys Stimme klingt, als käme sie von unter Wasser, und dann ist sie klar wie der Tag. »Gemma! Was ist los?«
Mein Blut kommt zur Ruhe und mein Pulsschlag wird wieder normal.
Felicity sieht mich mit aufgerissenen Augen an. »Gemma, du bist ohnmächtig geworden!«
»Der Wasserspeier«, sage ich zitternd. »Er war lebendig.«
Die beiden anderen Mädchen in der Droschke betrachten mich aufmerksam. Alle vier recken wir unsere Hälse aus dem Fenster und schauen zum Dach der Schule hinauf. Es ist vollkommen ruhig und still, nur lebloser Stein. Ein dicker Regentropfen klatscht mir ins Auge.
»Aua«, sage ich und lehne mich zurück. Ich wische den Regen aus meinem Gesicht. »Es schien so wirklich. Bin ich tatsächlich ohnmächtig geworden?«
Felicity nickt. Sie zieht besorgt die Stirn kraus. »Gemma«, flüstert sie. »Die Wasserspeier sind aus Stein. Was immer du gesehen hast, es war eine Halluzination. Dort ist nichts, ich schwor’s dir. Nichts.«
»Nichts«, wiederhole ich wie ein Echo.
Ich werfe einen letzten Blick hinter uns und es ist ein ganz gewöhnlicher Frühlingstag vor Ostern und ein Aprilregen, der sich von Osten nähert. Habe ich diese Dinge wirklich gesehen oder habe ich sie mir nur eingebildet? Ist das der neue Trick der Magie? Meine Finger zittern in meinem Schoß. Wortlos legt Felicity ihre Hände auf meine, um meine Furcht zu mildern.
*
Man sagt, Paris im Frühling sei traumhaft schön, es gebe einem ein Gefühl von Unsterblichkeit. Ich kann diese Behauptung nicht bestätigen, denn ich war nie in Paris. Aber der Frühling in London ist etwas vollkommen anderes. Der Regen prasselt auf uns herunter. Die Straßen ersticken sowohl im Verkehr als auch im Dunst der Gaslaternen. Bis wir das Haus erreicht haben, bin ich vom unaufhörlichen Rütteln der Droschke voll blauer Flecken und mein Rock ist fingerdick mit Schmutz bespritzt. Ein Stubenmädchen übernimmt an der Tür meine Stiefel, ohne ein Wort über das große Loch in meinem rechten Strumpf zu verlieren.
Großmama taucht aus dem Wohnzimmer auf. »Gütiger Himmel! Wie siehst du denn aus!«, ruft sie bei meinem Anblick.
»Der Londoner Frühling«, erkläre ich und verstaue eine lose Locke hinter meinem Ohr.
Sie schließt die Wohnzimmertür hinter sich und führt mich zu einem ruhigen Platz neben einem riesigen Gemälde. Drei griechische Göttinnen tanzen in einem Hain, während Pan in der Nähe die Flöte bläst und auf seinen kleinen Bocksfüßen munter über Klee hüpft. Es ist so scheußlich, dass es einem den Atem raubt, und ich kann mir nicht vorstellen, was Großmama bewogen hat, das Bild zu kaufen, erst recht nicht, es stolz zu präsentieren. »Was ist das?«
»Die drei Grazien«, belehrt sie mich. »Ich mag es sehr.«
Es ist wahrscheinlich das fürchterlichste Bild, das ich je gesehen habe. »Der Ziegenbock tanzt eine Polka.«
»Er repräsentiert die Natur«, schwärmt Großmama.
»Er trägt Unterhosen.«
»Wirklich, Gemma«, grollt Großmama. »Ich habe dich nicht beiseitegenommen, um über Kunst zu diskutieren, wovon du offensichtlich wenig verstehst. Ich wollte über deinen Vater sprechen.«
»Wie geht es ihm?«, frage ich. Das Gemälde ist vergessen.
»Er ist noch sehr angegriffen. Dein Besuch muss absolut friedlich verlaufen. Ich will keine Temperamentsausbrüche, keine deiner absonderlichen Gewohnheiten, nichts, was ihn aufregen könnte. Verstehst du?«
Meine absonderlichen Gewohnheiten. Wenn sie wüsste. »Ja, natürlich.«
*
Nachdem ich mein schmutziges Kleid gegen ein sauberes getauscht habe, begebe ich mich in den Salon zu den anderen.
»Ah, da ist ja nun unsere Gemma«, sagt Großmama.
Vater erhebt sich aus seinem Sessel am Kamin. »Du liebe Zeit, ist es möglich, dass diese
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