Kasey Michaels
hinterhergehetzt war, dann wieder sie alle nicht beachtet
hatte.
Was für ein
seltsames kleines Ding sie gewesen war; groß für ein Mädchen, dünn, nichts als
Arme und Beine und eine Haarmähne, die er oft genug aus irgendwelchen Zweigen
befreien musste, wenn sie ihnen durchs Gebüsch hinterherlief ins Dorf.
Eine Plage.
Sie war eine. Plage gewesen.
Da draußen
an der Auffahrt hatte er sie tatsächlich nicht erkannt. Groß war sie immer
noch, und schlank, aber inzwischen mit hübschen Rundungen. Ihren wirren Schopf
glänzend braunen Haars allerdings hatte sie gezähmt. Streng nach hinten
gerafft, fielen ihr die Locken nun nur über den Rücken noch lose herab. Es ...
es verlockte zum Streicheln.
Anders als
seine eigenen Augen, die ihn manchmal erschreckten, wenn er in den Spiegel
schaute, hatten ihre Augen sich nicht verändert. Und ihre Nase gefiel ihm,
gerade und ein wenig keck, und ihr Mund mit den vollen Lippen wirkte irgendwie
verwundbar.
Dass die
alte Charlie sichtbar wurde, geschah eigentlich nur, wenn sie diesen Mund
öffnete. Charlie sagte immer, was sie dachte, und beschönigte ihre Worte nie.
Das hatte ihm schon damals gefallen, als er ihr noch häufig genug auszuweichen
versuchte.
Jetzt
jedoch war ihm gar nicht mehr danach, ihr auszuweichen. Im Gegenteil.
Vor einem
halben Dutzend Jahren war sie in ihn verliebt gewesen. Ob ihr das nun peinlich
war? Vorhin da draußen hatte sie darüber gescherzt, doch wie ernst war ihr das
gewesen? Wie sah sie ihn wohl heute? Er war nicht mehr der ungelenke Junge von
einst.
Sie waren
nun Fremde. Fremde, die einmal geglaubt hatten, sich sehr gut zu kennen.
„Rafe? Ich
habe dich etwas gefragt“, drang ihre Stimme in seine Gedanken. Da stand
sie, mitten in dem großen, dunkel getäfelten Raum, in dem er manche Standpauke
von seinem Onkel hatte über sich ergehen lassen müssen.
„Entschuldige,
ich dachte gerade daran, wie ich einmal George niedergeschlagen habe, weil er
meine Mutter beleidigt hatte. Mein Onkel sagte dazu, dass ich größer und stärker
und vielleicht klüger als George werden könnte, aber nie würde ich über meinen
Stand hinauskommen. Da wusste ich dann, wo ich hingehörte! Jetzt erwarte ich
beinahe, dass mein Onkel hereinkommt und mich aus seinem Heiligtum wirft.“
Charlotte
setzte sich in einen der großen Ledersessel vor dem Kamin. „Aber er ist nicht
mehr, Rafe. Sie alle sind tot, und du bist nun ganz unerwartet an seiner
Stelle. Hast du das
Gefühl, dich rechtfertigen zu müssen, oder bist du nur überwältigt?“
Ja, das war
seine Charlie; niemand sonst würde die Frage zu stellen wagen, ob dem neuen
Duke of Ashurst sein Titel schwer auf den Schultern lastete.
Rafe hockte
sich auf die Kante des Schreibtischs. Lächelnd sagte er: „Und wie siehst du mich,
Charlie? Sehe ich denn wie ein Herzog aus?“
„Ich weiß
nicht. Setzt dich an den Schreibtisch, setzt dich auf deinen Stuhl. Ja,
es ist deiner. Und eines Tages der deines Sohnes. Du bist der Duke of
Ashurst.“
„So muss
Onkel Charlton über seine Söhne gedacht haben.“ Rafe setzte sich behutsam
auf den wuchtigen Schreibtischstuhl. „George und Harold haben nicht am Krieg
teilgenommen, haben nie ihr Leben für ihr Land eingesetzt, und doch sitze
jetzt ich hier, und sie sind tot. Ist das Schicksal oder einfach nur
Zufall?“
„Soll ich
dir etwas sagen?“, fragte Charlotte.
„Ja
bitte“, sagte er und drückte den Rücken gegen die Lehne, froh, dass es
ihm nicht vorkam, als teilte er den Sitz mit dem Geist seines Onkels.
„Du bist
ein Idiot, Rafe.“
Unwillkürlich
musste er lachen. „Pfui! Das sagt man nicht.“
„Hör zu! Du
bist der Duke. Der Titel steht dir zu – alle damit verbundenen Titel! Das ist
eine Tatsache. Du hast monatelang Zeit gehabt, dich daran zu
Weitere Kostenlose Bücher