Kasey Michaels
als ob die Natur ein Fenster geöffnet hätte, um den
Winter einzulassen. Charlotte fröstelte, und ihre Finger zitterten vor Kälte,
während sie erneut versuchte, die Kapuze von dem Ast zu lösen, obwohl der Wind
jetzt so heftig blies, dass ihr der Stoff immer wieder aus den Händen gerissen
wurde. Wenn sie nicht ewig hier festsitzen wollte, blieb ihr nichts übrig, als
die Bänder zu lösen und den Umhang zurückzulassen. Sie hatte schon viele
Novemberstürme erlebt, doch nun fragte sie ängstlich, woher diese so plötzlich
und ohne Vorzeichen ausbrechende Naturgewalt kam.
Gelesen hatte
sie schon einmal über ein solches Phänomen.Vermutlich kannte jeder in England
den Bericht Daniel Defoes über den Sturm, der über ein Jahrhundert zuvor dass
Land verwüstet und viele Todesopfer gefordert hatte.
Wie viele
dieser Opfer waren wie sie im Freien vom Toben des Windes überrascht worden?
Auch damals war das Unwetter ohne Warnzeichen, überfallartig, gekommen, und als
es nach zwei Tagen abklang, kannte man den Landstrich kaum wieder.
„Schluss
damit! Es ist nur ein bisschen Sturm!“, mahnte sie sich laut, doch die
Worte wurden ihr von den Lippen gerissen.
Endlich
gelang es ihr doch, ihren Umhang aus dem Geäst zu befreien. Um sich vor den
umherwirbelnden Blättern, Zweigen und Erdkrumen zu schützen, versuchte sie, mit
dem Stoff wenigstens ihren Mund zu verhüllen, doch als sie sich dabei mit dem
Rücken zum Wind kehrte, wäre sie beinahe von seiner Gewalt vornübergestoßen
worden.
Jeden
Moment konnte ein morscher Baum auf sie niederkrachen. Sie musste so schnell
wie möglich hier weg. Obwohl es nach Rose Cottage weiter war als nach Ashurst
Hall, zauderte sie doch keine Sekunde, sondern stemmte sich dem Wind entgegen,
um sich nach ihrem Zuhause vorzukämpfen.
Ashurst
Hall bestand aus dicken Steinen und konnte wahrscheinlich jedem Sturm trotzen,
Rose Cottage jedoch war ein Fachwerkbau mit Strohdach und stand noch dazu ungeschützt
von Baumreihen auf offenem Feld. Und dann war da noch Mamas geliebtes
Gewächshaus ...
Als
Charlotte sich vorhin verabschiedet hatte, war ihr Vater gerade mit dem
Ponywagen ins Dorf gefahren, und ihre Mutter, in ihrem üblichen abwesenden
Zustand, topfte Pflanzen um, in eben dem Gewächshaus mit all seinen Glasflächen.
„Oh Gott,
bitte ...“, betet Charlotte. Sich gegen den Wind stemmend, kam sie nur
langsam voran, weil sie sich von Stamm zu Stamm vorwärtshangeln musste, wobei
sich ihr Umhang wie ein Segel hinter ihr blähte und sie hemmte. Schließlich
löste sie die Bänder am Hals, und sofort flog der Umhang hoch in die Luft und
verschwand hinter den Baumkronen.
Und dann
setzte der Regen ein, einem Sturzbach gleich, der Charlotte, die nur noch ihr
leichtes Wollkleid trug, bis auf die Haut durchnässte und ihr die Sicht raubte.
Es war, als bewegte sie sich durch eine Wand aus Wasser. Selbst das Atmen fiel
schwer. Hinter ihr erklang jäh ein schreckliches Krachen, und als sie den Kopf
ein wenig wandte, sah sie, dass der Baum, an den sie sich eben noch gestützt
hatte, mit den Wurzeln aus dem Boden gerissen worden war und schräg über dem
Pfad hing, nur durch die Krone, die sich in anderen Bäume verfangen hatte,
gehalten.
Vor
Entsetzen kamen ihr fast die Tränen, sie wünschte sich nur noch
aus diesem grauenvollen Unwetter fort und hätte sich am liebsten zu einem
Knäuel zusammengerollt und die Augen zugekniffen, um nichts mehr hören und
sehen zu müssen. Doch sie quälte sich weiter, obwohl mittlerweile rings um sie
immer wieder ein junger, schlankerer Baum niedersank und den Pfad, den sie
doch so gut kannte, vor ihren Blicken verbarg. Und die kaum durchdringbare
Regenwand ließ sie zusätzlich fürchten, sie könnte sich verirren.
Und dann
sah sie
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