Kasey Michaels
männliche Art bemüht war, seinen Schwestern näherzukommen.
„Soweit ich weiß, sind die Mädchen noch nie aus der Gegend hier fortgewesen. Es
wäre grausam, ihnen einen kurzen Aufenthalt in der Stadt zu verweigern.“
„Genau“,
sagte Nicole schadenfroh, „grausam! Nicht zu erwähnen, wie gefährlich es wäre,
uns allein hier zurückzulassen. Du hast ja keine Ahnung, in welche
Schwierigkeiten Lydia sich bringen kann, wenn sie auf Unfug aus ist.“
„Nicole!
“, rief die stets stille, brave Lydia verlegen.
Charlotte
lächelte in sich hinein. Offensichtlich wusste Nicole, wie sie vorgehen
musste, um ihren Willen zu bekommen. Nicht anders als ihr Bruder.
„Bitte,
Rafe“, bettelte das Mädchen, die Hände flehend erhoben. „Charlotte hat
recht. Wir haben noch überhaupt nichts von der Welt gesehen.“
Eigentlich
hatte Charlotte erwartet, dass Rafe sich energisch widersetzen würde, doch
nach dem ersten Schock hatte er schweigend dagesessen und sie nur angeschaut,
wie tief in
Gedanken. Und dann hatte er gelächelt, boshaft, wie sie fand.
„Nur wenn
Charlotte damit einverstanden ist, euch beide zu begleiten, um euch vor
Schwierigkeiten zu bewahren.“
„Das wäre
unpassend“, erklärte Charlotte schnell, „und was das Letztere betrifft,
sowieso fast unmöglich.“
„Du irrst
dich, Charlie, es wäre durchaus möglich. Sogar wahrscheinlich. Weißt du, meine
Mutter schrieb mir nämlich gerade, dass sie die Saison bei mir im Stadthaus am
Grosvenor Square zu verbringen gedenkt, also wäre der Aufenthalt dort für
dich keineswegs ungehörig. Außerdem werde ich dem Plan nur unter dieser
Bedingung zustimmen.“
Also werde
ich einen weiteren Aufenthalt in London genießen dürfen, dachte Charlotte erfreut.
Dieses Mal am Grosvenor Square im Stadtpalais eines Duke und nicht, wie vor
vier Jahren bei ihrer einzigen Saison, in der wenig eleganten Half Moon Street
in einem schäbigen gemieteten Haus – mehr hatten ihre Eltern sich nicht leisten
können.
Auch wenn
die Zwillinge noch nicht offiziell debütierten, würde Rafe mit Einladungen zu
Bällen und Abendgesellschaften überschwemmt werden, vielleicht gab es gar Karten
für Almack's, und im Theater hatte der Duke seine eigene Loge. Nicht dass
Charlotte davon ausging, dass die Einladungen auch für sie galten, möglich war
es aber doch. Immerhin wohnte sie dann offiziell als Gast seiner Mutter im
Hause des Duke, sodass man sie schlecht übergehen konnte.
Und sie wäre
weit, weit fort von Rose Cottage, von der Freudlosigkeit dort, der zu entkommen
sie sich so sehr sehnte.
Vor allen
Dingen wäre Rafe da; er wäre in London.
„Ich muss
nicht ganz bei Verstand sein, zu glauben, dass etwas dabei herauskommt, wenn
ihm erst einmal klargeworden ist, welch wichtige Stellung er als der Duke nun
einnimmt“, murmelte sie nun vor sich hin. Sie stolperte über eine
vorstehende Wurzel, sodass sich ihre Kapuze in einem tiefhängenden Ast verfing.
Als sie
stehen blieb, um sich zu befreien, fiel ihr auf, wie unnatürlich
still es plötzlich im Wald war. Kein Vogel sang, kein Mäuschen raschelte im
Unterholz. „Verflixt, alles hat sich verkrochen! Gleich wird es regnen, und ich
hänge hier an diesem dummen Ast fest!“, murrte sie und zog kräftiger an
ihrer Kapuze.
Die Sonne
hatte sich, als wäre es schon später Abend, hinter einer dichten dunklen
Wolkendecke verkrochen.
Und dann,
wie auf ein geheimes Kommando, begann der Wind zu wehen. Nicht etwa eine Brise,
die nur trockene Blätter über den Boden trieb, sondern ein echter heftiger
Wind, der heulend und pfeifend durch die Wipfel fuhr, sie niederbeugte und
Erde und kleine Steinchen aufwirbelte.
Jäh wurde
es spürbar kälter, so
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