Kasey Michaels
Sehen
Sie, jahrelang hatte Nicole sehnsüchtig auf ihre erste Londoner Saison
gewartet, und dann fand sie alles banal und kleingeistig und schal und suchte
ihr Abenteuer anderswo. Ich meinerseits fürchtete mich vor London und stellte
dann fest, dass es mir gefiel – die Museen, die Buchläden, die Theater und das
ganz lebhafte Treiben. Vermutlich war ich dumm, aber erst heute erkannte ich,
wie viel menschliche Gemeinheit sich dahinter versteckt.“
„Justin
wird London für eine Weile hinter sich lassen und erst zur Frühjahrssaison
wieder herkommen. Er will der Gesellschaft Zeit geben, sich mit dem Gedanken an
seine Heimkehr vertraut zu machen. Jetzt frage ich mich, ob das klug ist.
Möglicherweise zögert er so nur die Konfrontation mit irgendeinem Rachsüchtigen
hinaus, mit der wohl zu rechnen ist. Doch wenigstens weiß er, dass ich zu ihm
stehe.“
Langsam
fragte Lydia sich, ob sie ihm ihre Hände entziehen sollte, aber ihr kam es vor,
als ob er nicht einmal merkte, dass er sie ihm noch festhielt. „Bestimmt ist
ihm das klar, und vielleicht will er
gerade deshalb abreisen. Um Sie zu schützen.“
Ganz kurz
drückte er ihre Hände. „Mein Gott, daran habe ich noch gar nicht gedacht!
Morgen Vormittag treffe ich mich mit ihm, dann werde ich ihm die Vorstellung,
dass er sich um meinetwillen opfern muss, schnell genug austreiben.“
„So wie er
Ihnen den Gedanken, sich zu seinem Schutz zu opfern, austreiben wird, stelle
ich mir vor. Wissen Sie was, Tanner? Ich glaube, im Grunde genommen sind Männer
ganz schön töricht.“
Das brachte
ihn zum Lächeln, und ihr schoss die Röte in die Wangen. „Die Worte einer höchst
intelligenten Frau. Ja, Männer sind idiotisch. Es wird uns schon in der
Kinderstube eingebläut. Und je zivilisierter wir werden, je mehr Regeln wir
erfinden, je häufiger wir Worte wie Ehre und Gesetz in den Mund nehmen, desto
primitiver sind wir in Wirklichkeit. Wir hüllen nur unser niedrigeres Ich in
feines Tuch. Und dessen bin ich nicht weniger schuldig als jeder andere
Mann.“
Sie führten
nicht gerade das romantischste aller Gespräche und bestimmt nicht das übliche
Gespräch zwischen Mann und Frau. Doch es war, erkannte Lydia, ein Gespräch
zwischen ebenbürtigen Partnern, zwischen Freunden. Nicht kunstvolle Konversation,
nicht höfliches Umschiffen unangenehmer Themen, nicht der Versuch, den anderen
zu beeindrucken.
„Nein, das
stimmt nicht; wenn Sie etwas sind, Tanner, dann eher zu gut. Zu
ehrenhaft.“
Sobald sie
es ausgesprochen hatte, war sie entsetzt über ihre Offenheit. Hastig entzog sie
ihm ihre Hände, faltete sie im Schoß und wandte den Blick ab. „Verzeihung, das
hätte ich nicht sagen sollen.“
Plötzlich
spürte sie seine Hand warm an ihrem Rücken und musste sich sehr aufs Atmen
konzentrieren, das anscheinend nicht mehr von allein funktionieren wollte.
„Es geht
jetzt nicht um Männer im Allgemeinen oder um mein Verhältnis zu Justin, nicht
wahr? Es geht wieder um Fitz?“
„Nein, ich
... ja, vielleicht doch. Sie haben, was immer er von Ihnen erbeten hat, mehr
als erfüllt, soweit ich betroffen bin.“
„Wollen Sie
mir sagen, dass ich mich trollen soll, Lydia? Sie in Ruhe lassen?“
Erstaunt
sah sie ihn an. „Nein! Ich ... ich möchte nur einfach keine Verpflichtung für
Sie sein, Tanner. Mehr nicht.“
Er beugte
sich zu ihr, küsste sie sanft auf die Wange und flüsterte: „Lydia, Sie waren
nie eine Verpflichtung für mich, nie, niemals.“
Sie wollte
seinen Blick meiden, seiner Nähe ausweichen, doch es gelang ihr nicht. Er hatte
sie geküsst! War es ein brüderlicher Kuss gewesen? Ein Kuss, wie man einen
Freund küsste? Und wenn sie geahnt hätte, was er tun wollte, hätte sie den Kopf
gedreht, sodass er sie auf den Mund küssen musste? Was hätte er dann
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