Kasey Michaels
Tanner erklärte, nicht mehr als fünf Meilen von
Malvern Hall entfernt
lag, lugte endlich blass die Sonne zwischen den tief hängenden Wolken hervor.
Seit etwa zwei Stunden hatte es nicht mehr geregnet, und langsam begann der
Fahrweg abzutrocknen, doch erst die zaghaften Sonnenstrahlen verlockten
Tanner, Lydia vorzuschlagen, ob sie nicht mit ihm den Rest des Weges zu Pferde
zurücklege wolle.
Lydia
betrachtet die schlafende Jasmine, dann Justin, der die Krempe seines Hutes so
tief über die Augen gezogen hatte, dass man nicht sagen konnte, ob er wach war
oder schlief.
„Dürfen wir
Jasmine denn ohne Anstandsdame hier zurücklassen?“, flüsterte sie.
„Im
Gegenteil, meine Liebe“, murmelte Justin und schob seinen Hut zurück. „Ihr
solltet mich nicht ohne Anstandsdame hier zurücklassen. Man kann auch
als Mann kompromittiert werden, wie manch ein unbedachter Bursche erleben
musste, der sich gezwungen sah, eine unpassende junge Dame zu heiraten, weil es
ihrer intrigierenden Mama gelang, die beiden irgendwo allein zu
überraschen.“
Unter
Lachen sagte Lydia: „Sie sind wirklich unverbesserlich.“
„Ja, ich
weiß. Und trotz ihrer reizenden Gesellschaft würde auch ich nach diesem langen
Eingesperrtsein gern zu Pferde weiterreisen.“
„Nun, dann
schließen Sie sich uns an.“
„Gern, nur
gelüstet es mich nach einem wilden Galopp, und da ich den Weg nach Malvern nich
nicht vergessen habe, denke ich, wir sehen uns später dort, nicht wahr?“
Lydia hatte
am Morgen nichts dagegen eingewendet, dass Sarah wieder ihr Reitkleid
bereitgelegt hatte, da sie so vermutlich der Zofe ersparte, für ein frisches
Reisekleid extra eines der große Gepäckstücke abladen lassen zu müssen.
Außerdem
war sie nicht eitel; ihr war das sauber ausgebürstete Reitgewand frisch genug.
In Jasmines Zimmer hatte sie gestern gleich drei Reisetruhen gesehen, und es
bereitet ihr Genugtuung zu wissen, dass sie selbst praktischer dachte.
Innerhalb
kürzester Zeit hatte der Wagen angehalten, die Reitpferde wurden losgebunden
und die Sättel von den schützenden Decken befreit. Mildred wurde aus der
dichtauf folgenden Kutsche, die die Dienerschaft beherbergte, in den vorderen
Wagen verfrachtet, um über ihrer schlummernde Herrin zu wachen, und schon waren
die drei Reiter aufgestiegen und bereit, sich in Bewegung zu setzen.
„Auf
geht's!“, rief Justin und schwenkte grüßend seinen Hut. „Ein Galopp
querfeldein ist genau das, was dieses Tier jetzt braucht!“
„Meinst du
dein Pferd oder dich?“
„Ah, eine
sehr gute Frage, Tanner. Du wirst wohl nichts dagegen haben, wenn ich deinen
Butler bitte, mir eine Flasche von deinem besten Wein zu bringen, während ich
auf euch warte? Ich würde es als edelmütige Geste deinerseits betrachten, sozusagen
als den Trostpreis für mich.“
„Was meint
er damit?“, fragte Lydia, die Justin nachschaute, wie er sein Pferd aus
dem Stand zu einem flotten Galopp antrieb. Offensichtlich waren Tier wie Reiter
begierig, sich Bewegung zu verschaffen.
„Wer weiß
schon, was Justin meint. Manchmal glaube ich, er redet, um sich an seiner
eigenen Stimme zu berauschen.“
„Nein, das
glaubst du nicht.“
Während die
Reisewagen hinter dem nächsten Hügel verschwanden, lenkte Tanner sein Reittier
neben Lydias Daisy und sie machten sich gemächlich, im Schritttempo, auf den
Weg. „Ja, du hast recht. Aber ich denke – nein, ich weiß es – er bildet sich
ein, sich in dich zu verlieben.“
„Ach,
das!“, entgegnete Lydia mit ihrer üblichen Nüchternheit, was ihr von Tanner
einen verdutzten Blick einbrachte. „Weil er, bevor wir aus London abreisten,
vorgab, mit Rafe gesprochen zu haben? Ich wusste, dass er uns alle nur
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