Kaste der Unsterblichen
aus welchem Grund sollte ich Ihnen ein Leid zufügen wollen?«
»Sieben Jahre sind vergangen. Für das Gesetz existiert Der Grayven Warlock nun nicht mehr. Ein Mann, der vorgibt, sein Relikt zu sein, kann unbehelligt umherspazieren. In Kharnevall erkannte ich Sie. Und Sie fürchteten, ich könnte Sie den Assassinen melden.«
»Und – angenommen, dieser fiktive Sachverhalt entspräche der Wahrheit – hätten Sie das getan?«
»Selbstverständlich! Sie haben sich eines unsagbar gräßlichen Verbrechens schuldig gemacht und es in Kharnevall ein zweites Mal begangen.«
»Sie sind wie besessen von dieser Vorstellung«, brummte Waylock. »Die Bewußtseinssondierung hat Ihre Ansicht widerlegt, und doch lassen Sie nicht davon ab.«
»Ich bin kein Dummkopf, Gavin Waylock.«
»Selbst wenn ich schuldig wäre – was ich niemals zugeben werde –, wo ist dann das Schändliche dieses Verbrechens? Weder Ihnen noch Dem Abel sind mehr als ein paar Unannehmlichkeiten zugestoßen.«
»Das Verbrechen selbst ist abstrakt und fundamental«, erwiderte Die Jacynth mit weicher Stimme. »Es geht um die elementare Verderbtheit, Leben auszulöschen.«
Waylock sah sich unbehaglich in der Halle um. Männer und Frauen unterhielten sich, schlenderten an den Wassergestaltungen entlang, posierten, gestikulierten, lachten. Sein Gespräch mit Der Jacynth hatte etwas Unwirkliches an sich. »Jetzt ist kaum der geeignete Zeitpunkt, eine solche Thematik zu diskutieren«, sagte er. »Lassen Sie mich aber dennoch auf einen Punkt hinweisen: Wenn es ein Verbrechen ist, Leben auszulöschen, dann sind bis auf die Lulks alle Menschen dieser Stadt schuldig.«
»Ihre Worte entsetzen mich!« flüsterte Die Jacynth in gespieltem Schrecken. »Schildern Sie mein Verbrechen … beschreiben Sie die gräßlichen Details.«
Waylock nickte. »Ein Amarant auf je zweitausend Bürger – das ist die bewilligte Quote. Als Sie in die Amarant-Gesellschaft aufgenommen wurden, erhielt der Aktuarius eine kleine Zusatzinformation. Zweitausend schwarze Limousinen fuhren ihren Bestimmungsorten entgegen. Zweitausend Türen öffneten sich. Zweitausend verzweifelte und hoffnungslose Menschen verließen ihr Zuhause und stiegen die drei Stufen empor. Zweitausend …«
Die Stimme Der Jacynth war so rauh wie das Krächzen einer nicht gestimmten Violine. »Das ist nicht meine Schuld. Alle wetteifern in gleicher Weise um Steigung.«
»Jeder ist sich selbst der Nächste – so einfach ist das«, sagte Waylock. »Wir haben es hier mit einem elementaren Kampf ums Überleben zu tun, und er ist heftiger und grausamer als jemals zuvor in der Geschichte der Menschheit. Sie verschließen die Augen. Sie treten für falsche Theorien ein. Ihre Besessenheit läßt keinen Platz mehr für etwas anderes. Und ich meine nicht nur Sie, sondern uns alle. Sähen wir den Tatsachen des Lebens ins Auge, wären unsere Palliatorien nicht mehr so voll.«
»Bravo!« rief Kanzler Imish aus, der von hinten an sie herangetreten war. »Eine unorthodoxe Ansicht, eine irreführende Prämisse, vorgetragen mit großem Nachdruck und nicht geringerer Überzeugungskraft.«
Waylock deutete eine Verbeugung an. »Vielen Dank.« Er nickte Der Jacynth zu und verschwand in der Menschenmenge.
3
In einer stillen Ecke ließ sich Waylock nieder. Die Jacynth hatte ihn hierherbestellt, um sich über seine Identität klarzuwerden – wenn nicht durch Den Abel Mandeville, dann mit Hilfe des Vergleichs der Fernsondierungsfilme, die Die Anastasia auf die Bitte Der Jacynth hin durch ihren Bewunderer Vincent Rodenave hatte besorgen lassen.
Waylock holte die Filmstreifen hervor und sah sie sich so genau an, wie das ohne Betrachter möglich war. Auf jedem einzelnen waren die Datenbilder verschwommen, so als wären zwei Segmente der Hauptkarte übereinandergelegt worden. Auf jedem Streifen waren zwei rote Kreuze zu erkennen, das eine klar und deutlich, das andere diffuser. Die Übereinstimmung des Meßstreifens von Gavin Waylock mit dem Des Grayven Warlock schien vollkommen zu sein. Waylock lächelte und riß die beiden Filme in Fetzen.
Dann betrachtete er noch einmal den Streifen Der Anastasia. Wie sein eigener wies er eine offensichtliche Überlagerung auf. Wie war das möglich, frage sich Waylock. Um einen technischen Fehler in den Apparaturen der Fernsondierung handelte es sich gewiß nicht. Es schien beinah, als seien die Datenkarten zweier Personen auf ein und demselben Informationsträger gespeichert worden. Doch das
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