Kastell der Wölfe
niedersinken.
»Ist ihm denn was passiert?«, fragte sie schließlich.
»Wie es aussieht, wohl nicht«, erklärte Bill. »Man kann davon ausgehen, dass dies keine normale Entführung gewesen ist, die in einer Lösegeldforderung endet.«
Esther May ging gar nicht erst auf das Thema ein. »Wer hat Archie entführt?«
Bill nickte mir zu, denn er wollte, dass ich die Antwort gab.
»Es ist zwar kaum zu fassen, und Sie sollten auch ruhig bleiben, Mrs. May«, sagte ich also, »aber es sind Wölfe gewesen.«
»Nein!« Zum ersten Mal fing sie an zu schreien. Sie sprang aus dem Sessel und wich vor uns zurück. Ihr Gesicht war verzerrt. Die Vorstellung, ihren Sohn in der Gewalt von Wölfen zu wissen, zerrte an ihren Nerven. Sie wurde blass, ihr Kopf bewegte sich hektisch, und wir mussten abwarten, bis sie sich wieder ein wenig erholt hatte. »Sagen Sie mir, dass es nicht wahr ist!«
Den Gefallen konnten wir ihr leider nicht tun. Ich hob die Schultern und versuchte, beruhigend auf sie einzuwirken. »Sie müssen tapfer sein, Mrs. May. Ich weiß, dass das einfacher gesagt ist als getan, aber es ist wirklich am besten für Sie. Und Sie dürfen nicht denken, dass es zu spät ist.«
»Was sagen Sie? Dass es nicht zu spät ist. Mein Gott, mein Junge ist von wilden Tieren entführt worden. Wissen Sie, wie das ist, wenn Wölfe einen Menschen zerfleischen?«
»Ja, wir wissen es!«
»Wie können Sie dann behaupten, dass ich...«
»Moment, Mrs. May«, unterbrach ich sie. »Sie haben mich nicht ausreden lassen. Ich gehe davon aus, dass die Wölfe Ihren Sohn nicht töten werden. Sie haben auch Timmy nicht getötet. Ihm ist wirklich kein einziges Haar gekrümmt worden. Sie haben ihn nur mitgenommen.«
»Und wohin?«, fuhr sie mich an.
»Zu sich«, antwortete ich ausweichend.
»Aber was wollen sie mit ihm?«
Ich winkte ab. »Sie vielleicht nichts. Es könnte sein, dass sie in einem Auftrag gehandelt haben.«
»Ach. In welchem denn?«
»Sie erinnern sich an den wilden Jungen? An das Kind, das auf Händen und Füßen gelaufen ist wie ein Tier?«
»Ja«, flüsterte sie. »Daran erinnere ich mich.« Sie strich sich fahrig übers Haar. »Aber ich kann trotzdem noch keinen richtigen Grund erkennen.« Sie schaute uns bittend an. »Sie denn?«
»Nein«, gab Bill zu. »Allerdings muss ich John Sinclair zustimmen, was das Motiv angeht. Ich glaube ebenfalls nicht, dass sich Ihr Sohn in Lebensgefahr befindet.«
»Ja, Sie haben es leicht. Zwischen Archie und Ihnen gibt es keine emotionale Verbindung. Ich weiß nicht, was ich machen soll, wenn mein Mann zurückkehrt. Ich muss ihm ja etwas sagen, aber ich stehe hier wie ein... Mein Gott, ich kann nicht mehr denken!«
»Dr. Wilson wird gleich zu Ihnen kommen, Mrs. May«, versprach ich. »So brauchen Sie zumindest nicht allein zu bleiben. Und ich glaube, dass die Meinung des Tierarztes auch nicht weit von unseren Ansichten entfernt ist. Jedenfalls werden wir uns auf die Suche nach Ihrem Sohn begeben, und ich denke, dass wir ihn auch finden werden.«
»Wo wollen Sie denn suchen? Sie wissen nicht, wo man ihn hingeschleppt hat. Oder konnte Timmy etwas sagen?«
»Nein, das war nicht möglich.«
»Dann...«
»Sie kennen die Ruine?«, fragte Bill und unterbrach Esther May mitten im Satz.
Sie stockte, zwinkerte und flüsterte: »Ja, das alte Kastell jenseits des Hangs.«
»Genau das. Beide können wir uns vorstellen, dass sich Archie dort befindet. Es ist ein Versteck, und wir haben auch gehört, dass sich die Bewohner dieser Gegend nicht so recht dorthin trauen.«
»Ja, das weiß ich. Da soll es nicht geheuer sein. Ich habe Archie auch verboten, dort zu spielen.«
»Das ist genau das, was wir meinen«, sagte ich. »Ein Ort, den Menschen vermeiden. Perfekt für andere Wesen.
»Aber Wölfe sind...
Ich winkte ab. »Bitte, Mrs. May, ich weiß, was Sie denken und was Sie fragen wollen. Aber es ist der einzige Ort, den wir uns vorstellen können. Wir glauben nicht, dass wir uns irren.«
Sie schaute zu Boden. Die Hände bewegte sie dabei unsicher. Innerlich war sie noch sehr aufgewühlt. »Und was ist mit diesem nackten Jungen, der Archie besucht hat?«
»Er ist für uns mit die wichtigste Person. Es könnte sein, dass seinetwegen alles so passiert ist, wie es gelaufen ist. Davon kann man wohl ausgehen.«
Mrs. May nickte. Sie rieb sich die Augen. Dann drehte sie sich zur Seite und fing an zu weinen.
Bill und mir war klar, dass eine verdammt harte Aufgabe vor uns lag. Wir würden alles
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