Kater Serano ermittelt 01 - Katzengold
umfasst hielt, wurde plötzlich schlaff.
Hatte Nico schon immer so riesige Augen gehabt? Er hatte sie kleiner in Erinnerung. Und weniger feucht.
»Welches Kapitel?«
»Das letzte Kapitel vom gehörnten Jäger.«
»Wie bitte?«
»Soll ich dir noch ein Märchen erzählen?«, krähte Liebermann. »Langsam bekomme ich Übung darin.«
Aus Nicos Augen waren Quellen geworden, aus denen es jetzt unaufhaltsam rann. Liebermann hatte nicht übel Lust, die glänzenden Rinnsale von ihren Wangen zu lecken. Erst jetzt bemerkte er, wie durstig er war. Seine Zunge klebte wie ein geschwollener Filzlappen an seinem Gaumen. Aber er beherrschte sich.
»Das Märchen vom Jäger und der bösen Königin, die sich als Schneewittchen ausgibt, um den Jäger in die Falle der Liebe zu locken. Und wozu? Ha! Einzig, um den Jäger vom Jagen abzuhalten. Er ist nämlich auf der Spur einer goldenen Hirschkuh, die er ihrem Besitzer zuführen soll. Was schlechterdings unmöglich ist, denn die Hirschkuh wurde von den Vasallen der Königin längst erlegt, ihr Fell schmückt als prächtiger Mantel ihre Schultern. Ach, wie sie den Jäger bezirzt, um seine Gedanken von der Jagd abzubringen, wie sie ihre Reize spielen lässt. Der Plan gelingt. Zwar gibt der Jäger die Jagd nicht auf, aber er sucht nicht in ihrem Reich, sondern weit weg von ihr. Dabei hat er den Hirschpelz die ganze Zeit vor Augen! Er sieht nicht mal, wie sie hinter seinem Rücken über ihn lacht, zusammen mit ihrem Gemahl, dem heimtückischen König. So sehr hat sie ihn verblendet.«
Nicos Mund öffnete sich langsam.
»Nicht schlecht, was?«, fragte Liebermann höhnisch. »Es geht noch weiter. Schließlich und endlich hat der Jäger doch einen lichten Moment. Der Zeichen sind einfach zu viele. Mit blutendem Herzen, immer noch hoffend, dass er irrt, wendet er seinen Blick dem Ort zu, an dem er sich befindet. Und stößt auf die Überreste der Hirschkuh. Das Spiel ist aus.«
Der Durst wurde langsam unerträglich. Aber noch war er nicht fertig.
»Und nun, was macht die Königin? Ich sag’s dir: Die Königin sieht keinen Nutzen mehr darin, dem Jäger länger Liebe vorzuheucheln. Sie wirft ihn weg und zieht sich in die schmierigen Arme ihres Gatten und ihres elenden Hofstaates zurück. Überheblich, wie sie ist, rechnet sie natürlich nicht damit, dass der liebeskranke Jäger eines Tages als Bulle wiederauferstehen könnte, um der Komödie noch diese letzten Zeilen hinzuzufügen. Die Auflösung.«
Liebermann wischte den Speichel vom Kinn, der ihm zusammen mit seiner Redekaskade aus dem Mund gelaufen war. Nicos Reaktion befriedigte ihn zutiefst. Sie hockte wie ein Häuflein Elend auf dem Teppich, einen Arm immer noch in der eisernen Handschelle seines Griffs. Er sah sie an, wie er ein Gemälde in der Galerie des alten Olbinghaus angesehen hätte. Die Büßerin. Selma Balthasar hätte sie vermutlich mit einem goldenen Hintergrund versehen.
Goldimitat, Katzengold. Er kicherte. Sein Schädel pochte, und er schwitzte wie nach einem Marathon, aber das störte ihn wenig. Nur der Durst machte ihm zu schaffen.
Nach einer Zeit, die ihm recht lang vorkam, hob Nico endlich den Kopf. »Du bist krank.«
»Nein«, krächzte Liebermann. »Ich bin endlich wieder gesund. Und jetzt will ich ihn sehen. Ich will, dass ihr beide noch einmal das Gespräch führt, in dem ihr beschlossen habt, mich zum Idioten zu machen.«
Diesmal enttäuschte Nico ihn. Er hatte mit einem völligen Zusammenbruch gerechnet oder wenigstens mit einem Ausruf, stattdessen fragte sie verwirrt:
»Meinst du Nils?«
»Exakt. Hamlet den Hausmeister. Her mit ihm!«
»Wie kommst du darauf, dass er hier ist?«
Liebermann riss die Geduld.
»Wo soll er denn sonst sein! Auf ins Schlafzimmer!«
Nico erhob sich. »Aber lass mich los.«
»Damit du über die sieben Berge abhaust? Nichts da!«
Darauf sagte sie nichts. Liebermann ließ sich von ihr in die Höhe ziehen. Auch dazu sagte sie nichts. Die Finger um ihr Handgelenk gebogen, stolperte er ihr nach.
Das Erste, was er sah, war Nicos aufgewühltes leeres Bett, das Zweite die nackte Schneiderpuppe. Selbst ihr Halsstumpf glänzte kahl.
Liebermann zeigte grinsend zum Bett. »Er liegt drunter.«
»Wenn du meinst«, sagte Nico. Zusammen gingen sie auf die Knie. Unter dem Bett lag ein Koffer. Zum Dröhnen in Liebermanns Kopf gesellte sich ein unheimliches Summen.
»Der Schuft ist aus dem Fenster«, flüsterte er.
»Hör auf«, sagte Nico. »Niemand springt aus dem zweiten Stock auf
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