Kates Geheimnis
noch stand.
Jill schloss die Augen und drückte den Führerschein an ihre Brust. Plötzlich hatte sie ein vages Bild vor Augen, ein Bürgersteig an einem trüben Tag, ein blitzendes rotes Dreirad und die auf Hochglanz polierten Lederschuhe eines Mannes. Oxford-Schuhe.
Ihr Vater hatte braune Oxfords getragen.
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Sie sah nach, ob der Umschlag auch wirklich leer war, und öffnete dann den nächsten, der im Gegensatz zum ersten sehr dünn war. Eine Hand voll Fotos fielen heraus und ein paar Papiere.
Jill erstarrte, als sie erkannte, dass es sich um Briefe handelte. Sie ignorierte die Fotos und griff nach den mit eleganter Schrift gefüllten Seiten. Die Briefe waren an Shirley gerichtet, und sie stammten von ihrer Mutter, Bonnie Lewis, und ihrer Schwester Madeline. Dann wandte sie sich den Fotos zu.
Jills Puls spielte verrückt. Die Fotos zeigten sie selbst und ihre Eltern. Auf einigen war sie noch ein Baby. Ihre Eltern sahen auf allen Bildern so glücklich aus, dass ihre Liebe nicht zu übersehen war. Wieder stiegen Jill Tränen in die Augen.
Ein Foto fesselte sie besonders. Shirley in Shorts und weißem T-Shirt stand neben einem älteren Paar in altmodischer Kleidung, und Jill zweifelte nicht daran, dass das Shirleys Eltern waren, denn die Ähnlichkeit war unverkennbar. Sie drehte es um, und tatsächlich, auf der Rückseite stand in eleganter Schrift das Datum, der einunddreißigste Juli 1965, und die Worte »Ich, Mum und Dad beim Ausflug ans Meer«. Mit Bleistift hatte ihre Mutter darunter geschrieben: »Zwei Tage später habe ich Jack kennen gelernt!« Jill lächelte, und Tränen nahmen ihr die Sicht.
Den Versuch, nicht zu weinen, gab sie endgültig auf, als sie das nächste Bild ansah. Es zeigte sie selbst 208
als Baby in einem albernen Spitzenkleidchen, und ihre Eltern hielten sich an den Händen und beugten sich mit einem strahlenden Lächeln über sie. Auch die Jill auf dem Foto strahlte. Das also war es, was sie niemals gekannt hatte.
Nein, das war es, was sie gekannt hatte, woran sie sich aber nicht erinnern konnte.
Erschüttert sah Jill vier oder fünf weitere Familienfotos durch, und ihr wurde klar, dass sie zwar nichts gefunden hatte, das sie mit Kate in Verbindung brachte; aber sie hatte endlich die fehlenden Stücke ihrer eigenen Vergangenheit gefunden, die sie für immer in Ehren halten konnte.
Und dann entdeckte sie das allerletzte Bild - es war auf der Hochzeit ihrer Eltern aufgenommen worden.
Einige Leute in festlicher Kleidung standen um das Brautpaar herum, das sich glücklich lächelnd an den Händen hielt. Sie standen
auf den Stufen eines großen Gebäudes, das nach Verwaltung aussah. Einen Moment lang bewunderte sie Shirley in ihrem weiten weißen Hochzeitskleid, und ihren Vater, der einen weißen Smoking trug. Das Ehepaar Lewis erkannte sie gleich, sie standen direkt hinter ihrer Tochter und lächelten breit, aber sie kannte weder den jungen Mann neben Jack noch die junge Frau neben ihrer Mutter. Das mussten wohl die beiden Trauzeugen sein.
Sie betrachtete den älteren, grauhaarigen Mann, der allein neben ihrem Vater stand, in einem weißen 209
Smoking mit roter Nelke im Knopfloch. Er kam ihr bekannt vor - obwohl sie ihn noch nie zuvor gesehen hatte. Ihr Herz schlug schneller.
Wer war er? Warum kam er ihr so bekannt vor?
Jill drehte das Foto um und las: »Unser Hochzeitstag, am ersten Oktober 1969, Jack und ich, Timmy und Hannah, Mom und Dad und Peter.«
Peter. Jill drehte das Foto wieder um, sprang auf und starrte aufgeregt auf Jacks Vater, Peter Gallagher.
Ihr war immer noch nicht ganz klar, warum sie ihn wieder erkannt hatte. Jack sah ihm überhaupt nicht ähnlich. Sie kam zu dem Schluss, dass sie ihn vielleicht als Baby einmal gesehen hatte und dass die Erinnerung an ihn irgendwo in ihrem Unterbewussten noch vorhanden war.
Jill setzte sich, überwältigt von all dem, was sie gefunden hatte, wieder auf den Boden. Ihr Blick schweifte über die Fotos, die Briefe, die sie ein andermal lesen würde, die Pässe und
Geburtsurkunden. Die Kiste hatte wahre Schätze enthalten, wenn sie auch nichts Genaueres über ihre Vorfahren auf der Gallagher-Seite darin gefunden hatte.
Plötzlich spürte Jill, dass da etwas nicht stimmte.
Sie schob die Sachen hin und her und versuchte auszumachen, was sie so störte - und zwischen all dem Zeug traf sie immer wieder auf die Fotos von Jack und Shirley, ihre Babyfotos, Shirley und die Lewis’, Jack, Shirley und die Lewis’. Plötzlich
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