Katrin Sandmann 04 - Blutsonne
näherte sich von hinten, der Fahrer hupte verärgert, weil der pinkfarbene Kleinwagen mitten auf der Fahrbahn stand. Er kurvte mit quietschenden Reifen um das Hindernis herum, warf einen wütenden Blick auf die junge Frau am Steuer und verschwand im Nebel.
Carina blieb kurz im Eingang des Mietshauses stehen und winkte, dann wandte sie sich ab. Als die Tür ins Schloss fiel, gab Silke Gas.
Carina wohnte im dritten Stock. Nachdem sie sich vor zwei Jahren von ihrem Freund getrennt hatte, war sie in die kleine gemütliche Wohnung mit Balkon gezogen, in der ihr statt eines ewig nörgelnden Filialleiters ein blauer Wellensittich Gesellschaft leistete. Sie war erschöpft. Zusammen mit Silke hatte sie wie jeden Mittwoch im Fitnessstudio trainiert. Danach waren sie gemeinsam Essen gegangen. Silke hatte darauf bestanden, sie nach Hause zu fahren, das tat sie immer. Sicher war sicher.
Der Mann glitt aus dem Schatten, als Carina die Wohnungstür aufschließen wollte. Er hatte auf dem Treppenabsatz eine halbe Etage über ihr gewartet. Jetzt presste er ihr die linke Hand vor den Mund. Mit der rechten hielt er ihr die Waffe an die Schläfe. »Keinen Mucks. Sonst drücke ich sofort ab.«
Carina ließ die Tasche fallen. Versteinert blieb sie stehen. Obwohl er ihr die Worte kaum hörbar zugeraunt hatte, hatte sie seine Stimme erkannt. Sie begriff sofort.
Grob stieß er sie an. »Heb die Tasche auf!«
Mit zitternden Fingern griff sie nach der Tasche und presste sie sich vor den Bauch. Er führte sie die Treppe hinunter. Sie machte jeden einzelnen Schritt wie in Trance. Als hätte jemand ihr Hirn ausgeschaltet. Etwas in ihr schrie: Wehr dich! Tu etwas! Wenn du nichts unternimmst, bringt er dich um!
Doch sie konnte nichts tun. Es war, als gehöre ihr Körper gar nicht ihr. Als sähe sie einem Ereignis zu, das sich irgendwo weit weg abspielte, das nichts mit ihr selbst zu tun hatte. Sie kannte das Gefühl von früher, dieses Aus-dem-Körper-Hinausschweben , dieses Fliehen an einen fernen Ort, weit weg, wo sie sicher war und nichts mehr spürte.
Absurderweise dachte sie an die Wäsche in der Waschmaschine, die anfangen würde zu knittern und zu stinken, wenn sie niemand herausnahm und aufhängte. Und an Coco , ihren Wellensittich. Wer würde ihn füttern?
Die Straße war menschenleer. Der Betrunkene war längst verschwunden. Aus der Kneipe an der Straßenecke drangen Licht und gedämpfte Musik. Sehnsüchtig starrte Carina auf die erleuchteten Fenster, doch noch immer war sie nicht in der Lage, etwas anderes zu tun, als mechanisch vorwärts zu gehen. Der Mann hielt ihr nicht mehr den Mund zu. Er hatte den linken Arm um sie gelegt. Von ferne sahen sie vermutlich aus wie ein Liebespaar.
Er blickte sich um, bevor er die Kofferraumklappe öffnete. Rasch legte er ihr die Handschellen an. Dann stieß er sie ins Fahrzeug, zog ihr die Stiefel aus und fesselte ihre Beine. Sie wimmerte leise, als er ihr den Schal vor den Mund band. Die Handschellen schabten an ihren Handgelenken, die Schnur schnitt in ihre Fesseln, und ihre Schulter tat weh, dort, wo sie im Kofferraum aufgeprallt war. Am liebsten hätte sie geweint, doch ihr Inneres war leer wie ein versiegter Brunnen.
Als der Mann die Klappe zuschlug, kamen ein paar Leute aus der Kneipe. Drei Männer und zwei Frauen. Sie verabschiedeten sich voneinander, dann bogen ein Mann und eine Frau in die Cranachstraße ab. Die anderen drei kamen genau auf den Geländewagen zu. Sie lachten und alberten herum. Keiner von ihnen warf einen Blick in den Kofferraum, als sie vorbeigingen, sonst hätten sie vermutlich Carina gesehen, die dort gefesselt und geknebelt lag, denn der Mann hatte in der Eile vergessen, sie mit der Wolldecke zuzudecken. Als die drei im Nebel verschwunden waren, stieg er ein. Er vergewisserte sich mit einem Blick unter den Beifahrersitz, dass er dabeihatte, was er brauchte, dann ließ er den Wagen langsam aus der Parklücke gleiten. Genau fünf Stunden und dreiundvierzig Minuten später war Carina Lennard tot.
*
Katrin stöhnte. Vor ihr hing der Tote im Nebel und streckte ihr die Zunge heraus. Sie wollte schreien, aber als sie den Mund aufriss, stob eine Wolke Fledermäuse aus ihrem Rachen. Hastig presste sie die Lippen aufeinander. Aber die Fledermäuse ließen sich nicht aufhalten. Sie flatterten in ihrem Mund herum, kratzten und schabten an ihrem Hals, bis sie es nicht mehr aushielt, ihnen erneut den Weg freigab. Zitternd krallte sie sich an einen Baumstamm,
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