KATZ oder Lügen haben schlanke Beine (German Edition)
die Gegenwart sickerte und sie vergiftete – ein misshandeltes Kind, dass, von seinem eigenen Vater geschwängert, gezwungen worden war, eine behinderte Tochter zur Welt zu bringen. Und ein mehr als seltsamer, nie vollständig aufgeklärter Tod im Straßengraben. Da gab es Verletzungen, Verhärtungen, Vereinsamung. Aber darüber wollte ich jetzt nicht sprechen, aus einem Gefühl heraus, das ich im Moment nicht genauer definieren konnte. Aber auch aufgrund von Tatsachen, die mir einfach und plausibel erschienen. Ich war zwar kein Jurist, aber eins stand für mich ziemlich eindeutig fest: Maria Bunzenbichler hatte ihre Tat, wenn sie sie denn begangen hatte, als Jugendliche verübt. Eine Tat, die, wenn man die Umstände und Marias seelische Notlage in Betracht zog, mit größter Sicherheit als Totschlag gewertet würde. Und der verjährte nach zwanzig Jahren. Und die wiederum waren bereits vergangen, zumindest mehr oder weniger. Was hätte es also bringen sollen, die ganze Angelegenheit wieder ans Licht und Maria Lappé vor Gericht zu zerren, vorausgesetzt, es käme überhaupt dazu, um dann, nach einem peinigenden Spießrutenlauf, wieder an den Ausgangspunkt zu gelangen, mit noch mehr Verletzungen, noch mehr Verhärtungen, noch mehr Vereinsamung? Genau genommen war für mich der Fall erledigt. Ich hatte meinen Auftrag abgeschlossen. Aber ich war etwas irritiert. Ich wurde den Eindruck nicht los, dass Lappé die harmlosen Hintergründe des Erpresserschreibens nicht beruhigten und befriedigten, sondern dass er im Gegenteil grenzenlos enttäuscht war. Dass er etwas ganz anderes hatte hören wollen über diesen Brief, über dessen Urheber, über seine Frau und über die Behauptung, dass sie »jemanden auf dem Gewissen« habe. Sollte aber nicht mein Problem sein.
»Meiner Meinung nach ist letztlich nichts passiert, was nicht wieder repariert werden könnte«, sagte ich, »... mit einem bisschen guten Willen, Geduld und gegenseitigem Verständnis. Vielleicht wäre das am Ende sogar alles für etwas gut, so wie ein reinigendes Gewitter. Meinen Sie nicht auch?«
Jüjü schien keineswegs »auch zu meinen«, sondern schaute mich an, als ob ich nicht im geringsten wüsste, wovon ich redete, als ob ich mir nicht im Entferntesten darüber klar wäre, worum es eigentlich ging, oder auch einfach nur: als ob ich nicht alle Tassen im Schrank hätte. Mir war das ziemlich gleichgültig, denn schließlich: Was hatte ich denn schon mit seinen verkorksten Familienverhältnissen zu tun?
»Danke für Ihre Bemühungen, Herr Katz!«, sagte er kurz angebunden, erhob sich und reichte mir zum Abschied die Hand, als hätte ich die Krätze. Ich stand ebenfalls auf und griff beherzt zu. Dabei schaute ich über seine Schulter auf die Wand, direkt in den geöffneten Tresor. Nichts drin. Keine Papiere, kein Pulverschnee, keine Umschläge, kein Geld. Nur Luft.
Dann fischte ich die Rechnung aus meiner Jacke.
»Die Rechnung«, sagte ich geistreich.
»Das erledigt Frau Schneiderhahn«, antwortete er.
Ich betrachtete unser Gespräch damit als beendet, verließ das Büro und ging durch die leeren Flure, vorbei an geschlossenen Türen, zurück zum Empfang. Dort drückte ich Honigmelönchen meine Rechnung in die zarten Hände, und zwar »mit freundlichen Grüßen an Frau Schneiderhahn«.
30
Es wurde Zeit, mich mal wieder im Büro blicken zu lassen. Ich schlängelte mich mit dem beginnenden Feierabendverkehr über die Autobahn nach München und verließ sie wieder an der Forstenrieder Ausfahrt. Irgendwie war mir nicht nach Mittlerem Ring und Stau, sondern nach verzweigteren Wegen durch schönere Stadtteile. Aber wahrscheinlich auch mit Stau. Na ja, egal.
Ich schaltete das Radio ein. Sobald ich die ölige Stimme der nervtötend gut gelaunten Moderatorin hörte, schaltete ich es wieder aus. Es gibt eine Art von inszenierter Launigkeit, die nur zu ertragen ist, wenn es einem wahnsinnig gut oder unglaublich beschissen geht. Beides war bei mir nicht der Fall. Ich war irgendwie nur nicht so recht bei der Sache, bekam meine Gedanken nicht auf die Reihe und konnte, genau betrachtet, nicht einmal sagen, welche Gedanken überhaupt darauf warteten, auf die Reihe gebracht zu werden. Lag wahrscheinlich daran, dass es bald ein Gewitter geben würde. Nicht, dass es sich schon sichtbar angekündigt hätte. Im Gegenteil: Die Sonne stand nach wie vor pausbäckig am Himmel, die Vögel unterhielten sich kichernd und die Mädchen, die im hellen Sonnenlicht an einer Ampel
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