Katzendaemmerung
völlig ausgeblendet, es gelang mir aber nicht, noch vorhandene Sinneseindrücke in logische Zusammenhänge zu bringen. Ich träumte – oder hörte – Geräusche. Schreie. Laute Schreie. Allerdings weckten die hohen, lang anhaltenden Töne keinerlei Emotionen in mir. Wie ein mechanisches Aufnahmegerät registrierte ich lediglich die individuelle Form der Schallwellen; dabei war es für mich ohne Belang, ob die Quelle nun eine rauschende Palme oder eine schreiende Frau war.
Ich trieb in einem dunklen Ozean, und jedes Geräusch war nur ein unbedeutender Bestandteil seiner ewigen Brandung. Das ungewöhnliche Tosen der Wellen verlor sich jedoch nicht in der Unendlichkeit; ganz langsam sickerten die Töne in den Sand meines Bewusstseins. Schicht um Schicht gruben sie sich tiefer nach unten.
Als das gereinigte Substrat schließlich meinen schlummernden Geist erreichte, explodierte es dort wie eine Überdosis Atropin. Zuckend bäumte sich mein Körper auf. Ein sofort einsetzender Schwindel zwang mich dazu, meinen Kopf mit beiden Händen abzustützen. Ich keuchte, als wenn ich soeben einen Marathonlauf absolviert hätte. Kalter Schweiß perlte auf meiner Stirn.
Verwirrt fragte ich mich nach der Ursache für mein plötzliches Erwachen, aber ich konnte mich an keinen Albtraum erinnern. Mit weit aufgerissenen Augen starrte ich in die Dunkelheit. Bis auf das dröhnende Pochen meiner Schläfen war kein weiteres Geräusch zu hören.
Natürlich hörst du nichts , dachte ich missmutig. Der Grund für deine Panik steckt nur in deinem Kopf. Es ist Rosalie. Nur sie allein ist schuld daran, dass du keine Ruhe findest. Das schlechte Gewissen nagt an dir.
Ich wollte mich schon wieder auf der Couch ausstrecken, als die Schreie – oder die Erinnerung daran – an- und abschwellend durch den Raum hallten. Wie von einer äußerst weit entfernten Mauer zurückgeworfen. Es waren die Klagelaute eines Menschen in höchster Todesnot.
»Rosalie!«, krächzte ich kaum hörbar in die Stille. »Rosalie!«
Mit ausgestreckten Armen ertastete ich mir den Weg zur Tür. Im Flur brannte trotz der späten (oder sollte ich besser sagen: frühen) Stunde Licht.
»Rosalie?«
Während ich mich mit schnellen Schritten dem Schlafzimmer näherte, spukten die widerwärtigsten Horror-Szenarien in meinem Kopf herum. Ich sah das Bett wie eine Insel aus einem Meer von Blut herausragen. Mia thronte lächelnd darauf. Mit großer Genugtuung beobachtete sie, wie die zerfetzten Gliedmaßen und Gedärme ihres Opfers an ihr vorübertrieben.
»Nein!«, schrie ich verzweifelt. »Du hast mir dein Wort gegeben!«
Mittlerweile rannte ich den schmalen Gang hinunter. Es ist nichts , versuchte ich mich zu beruhigen. Alles nur ein Streich deiner überreizten Nerven … Joy war nur ein bedauerlicher Unfall, hörst du? Ein einmaliger, tragischer Zwischenfall. Rosalie ist nichts geschehen … Die Schreie … habe ich sie überhaupt gehört? Und wenn ja, so sind sie nichts weiter als Traumgespinste.
Schwer atmend erreichte ich die verschlossene Tür zum Schlafzimmer. Das dunkle Eichenholz wirkte wie verkohlt. Oder doch nicht? Nervös blinzelte ich mir den Schweiß aus den Augen. Mit einem Mal erstrahlte die Umbra hell, beinahe lodernd. Es war schon verrückt, welche Assoziationen vertraute Anblicke plötzlich wachrufen konnten. Wütete hinter der Tür etwa ein Feuer? Oder würde mich beim Öffnen ein reißender Strom aus Blut erfassen? Bei diesem Gedanken drängte sich mir unwillkürlich die Schlussszene aus Stanley Kubricks ›Shining‹ ins Gedächtnis. Wie in Zeitlupe überschwemmte dort eine rote Woge das Foyer des ›Overlook-Hotels‹. Das Blut erschien als Zeichen des Bösen, als Bote des Todes für die notwendige Katharsis.
Mit zittrigen Fingern umfasste ich den Türknauf. Das Metall war kalt. Es ist nichts geschehen , sagte ich mir erneut. Du machst dich völlig umsonst verrückt. Die beiden werden eng aneinander gekuschelt im Bett liegen, friedlich schlafend, wie zwei unschuldige Engel. Garantiert. Alles andere ist nur das Ergebnis deiner Amok laufenden Hysterie.
Leise schnarrend öffnete sich die Tür. Stille und Dunkelheit erfüllten den Raum. Nicht einmal das leiseste Atemgeräusch drang an mein Ohr. Als meine Finger den Lichtschalter gefunden hatten, hielt ich abrupt inne. Ich atmete einmal kräftig durch und betätigte dann den Schalter. Sanft legte sich das warme Gelb zweier Tischlampen auf alle Wände und Möbel des Zimmers. Ich erkannte das Bett, die
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