Katzendaemmerung
mich selbst. Da weder Hüfte noch Brust protestierten, wagte ich von nun an eine schnellere Gangart. Meine anfeuernden Gedanken passten sich dabei dem Tempo an.
Joy! … … Rosalie! … … Friedlander!
Joy! … Rosalie! … Friedlander!
Joyrosaliefriedlander!
Noch ehe ich die Hälfte der Stufen bezwungen hatte, waren die drei Namen zu einem einzigen magischen Mantra verschmolzen. Ich war wie in einem Rausch. Mit jedem Wiederholen schienen mehr Zuversicht und mehr Kraft in mir wach zu werden. Ich wurde geradezu übermütig; auf den letzten Metern zum Erdgeschoss übersprang ich kurzerhand einen der leeren Kartons, die noch immer die Treppe blockierten. Problemlos landete ich eine Stufe tiefer und setzte meinen Weg fort. Selbst das erwartete Stechen in der Brust war ausgeblieben. … saliefriedlanderjoyrosaliefriedlan … Wie es schien, erfüllte das Mantra einen doppelten Zweck: Es belebte meinen Geist und lähmte gleichzeitig mein Schmerzempfinden.
Unglaublich , dachte ich, als ich mit relativ sicheren Schritten den Hinterhof betrat, du hast ja beinahe so etwas wie eine Chance.
Ein grauer Dunstschleier lag über den Ruinen. Nur spärlich sickerte das Licht des frühen Morgens durch eine dichte Wolkendecke. Nachtschwarze Schatten nisteten auch jetzt noch in einigen Winkeln und Nischen.
Ich betrat ein seltsames Zwischenreich, das weder das aristokratisch-blasse Gesicht der Nacht, noch das farbenfrohe aber ungeschminkte Antlitz des Tages vorweisen konnte. Unter dem Einfluss der grauen Atmosphäre näherte sich bald jedes Extrem einer diffusen Mitte. Es existierte weder hell noch dunkel, weder gut noch böse, weder Leben noch Tod.
Nicht zum ersten Mal fiel mir auf, dass nicht einmal das Gezwitscher eines Vogels zu hören war. Schweigend marschierte ich durch die träumende Kulisse einer vergilbten Schwarz-Weiß-Fotografie.
Von einem leicht erhöhten Teil des Pfades aus konnte ich einen ersten Blick auf das Buswrack werfen. Die rechteckige Form löste sich beinahe vor dem düsteren Hintergrund auf. Kein noch so schwacher Kerzenschimmer verriet, ob bereits jemand das Innere betreten hatte.
Doch warum sollte Mia auch Licht machen? , dachte ich. Ihre Katzenaugen durchdrangen vielleicht selbst das Dunkel der Gruft.
Aufmerksam betrachtete ich die nähere Umgebung der Senke. Lag es an meinem eingeschränkten Sehvermögen, oder gab es dort unten tatsächlich eine klar abgegrenzte Trennungslinie, die in etwa dreißig Metern Entfernung um den Bus herum verlief? Ich blinzelte mehrmals, doch ohne Erfolg; es hatte den Anschein, als ob sich das rostige Skelett selbst dem schwachen Licht des Morgens widersetzen würde. Es widersprach zwar jeder Vernunft, aber im Zentrum der Mulde herrschte noch immer tiefste Nacht.
Voller Anspannung setzte ich meinen Weg fort. Eigentlich bestätigte das beunruhigende Phänomen nur meine Vermutung: Das Grau der Dämmerung war keineswegs ausgewogen; eindeutig dominierten seine dunklen Anteile.
Als ich näher kam, ließ sich jedoch keine Grenze mehr ausmachen, ganz plötzlich spürte ich nur, dass ich die finstere Zone bereits betreten hatte. Ich zog meine ›Mini-Mag‹ aus der Tasche und bemalte das Fragment einer Hauswand mit zuckenden Licht-Graffitis. Auf übertriebene Vorsicht legte ich keinen Wert. Mia durfte ruhig wissen, dass ich kam. Das Wesen der Sachmet in ihr würde sich ohnehin nicht durch einen plumpen Überraschungsangriff bezwingen lassen.
Die dunklen glaslosen Fensterhöhlen starrten mich schweigend an.
»Mia, bist du hier? Ich bin’s, Thomas.«
Stöhnend zwängte ich mich durch den schmalen Spalt der Tür. Wohin ich den Lichtstrahl auch richtete, überall bot sich dasselbe trostlose Bild: staubige und dreckverkrustete Leere. Ich ließ mich jedoch nicht entmutigen. Sie muss einfach hier sein , sagte ich mir. Wo sonst hätte ich nach ihr suchen sollen?
Eine kleine Spinne verfing sich im Lichtkegel meiner Lampe; aufgeschreckt wuselte sie über das zerklüftete Fischgrät-Muster des Bodens davon. »Wo kommst du denn her?«, murmelte ich verwundert. Soweit ich mich erinnern konnte, hatten bislang selbst Fliegen einen weiten Bogen um diese ungastliche Stätte gemacht. Neugierig geworden verfolgte ich dem chaotisch scheinenden Zickzack-Lauf des Insekts. Immer dann, wenn sich die Spinne in einem sicheren Schatten wähnte, wurde sie von meiner künstlichen Sonne aufgescheucht. Sie hatte keine Chance; für sie war der Boden eine endlose Wüste, die gegenüber meiner
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