Katzendaemmerung
Julius, finden wir aber – wenn überhaupt – nur tief im Erdboden vergraben. Stumme Relikte, die keine Fragebögen ausfüllen. Dafür aber Fragen aufwerfen, die wir noch gar nicht gestellt haben.«
Ich schwieg. Der Haupteinwand gegen meine These war jedoch alles andere als stichhaltig. Ohne Zweifel sind wir alle dem Faktor Zeit unterworfen; im kosmischen Gefüge währt ein Leben kaum den Bruchteil eines Wimpernschlages, ganze Kulturen vergehen während eines Atemzuges, doch manche Dinge bleiben selbst über diese Spanne hinweg in den Köpfen der Menschen haften. So spüren wir noch heute die irrationale Angst vor der Dunkelheit, eine Emotion, die in den Höhlen der grauen Vorzeit geboren wurde. Wie nahe liegt im Vergleich dazu der Bau der Pyramiden! Und erst wir Christen. Glauben wir nicht an einen Mann, der vor annähernd zweitausend Jahren an einem Ort namens Golgatha gekreuzigt wurde? Religion überbrückt ohne Probleme selbst Jahrtausende; ob es sich dabei um zwei, drei oder fünf Millennien handelt, ist dabei ohne jeden Belang.
Wie weit wäre also demnach zeitlich eine vermeintliche Sachmet-Sekte vom Ursprung meines eigenen Glaubens entfernt? Nur zwei, drei kosmische Atemzüge. Nur Atemzüge!
Da sich aber eine Diskussion über dieses Thema mit meinem Onkel als sinnlos erweisen dürfte, schlüpfe ich von nun an in die Rolle des stillen Beobachters. Vielleicht finde ich in den letzten beiden Wochen ja Anhaltspunkte, die meine Vermutung erhärten oder auch entkräften …
Die folgenden Seiten widmete Blatchford nun ausführlichen Schilderungen der mühsamen Grabungsarbeiten. Zusammen mit einer reduzierten Gruppe von vier einheimischen Helfern, wühlte man sich bis in eine Tiefe von über drei Metern, doch eine tönerne Ushebti-Figur in Form einer Katze war alles, was man fand. An den Abenden zog sich der junge Blatchford nun immer früher in sein Zelt zurück; jede freie Minute nutzte er zum Studium seiner Bücher. Eine Eintragung am 12. Juli zeigt, wie sehr sich der eifrige und frustrierte Mann mit dem Thema ›Bastet und Sachmet‹ beschäftigte. Bei der näheren Untersuchung des Sachmet-Mythos machten wir (er, der Schreiber und ich, der Leser) eine beunruhigende Entdeckung …
12. Juli: Bislang verfügte ich nur über rudimentäres Wissen bezüglich der einzelnen Gottheiten. Mir waren zwar die Geschichten über Re, Horus, Osiris und Seth oder auch Isis bekannt, detaillierte Informationen über die Katzengötter Bastet, Sachmet, Schu, Tefnut, Miysis, Schesemtet, Triphis, Tutu oder Pachet fehlten mir jedoch. In einem Buch über Göttersagen im Alten Ägypten fand ich schließlich eine recht aufschlussreiche Erzählung über das Wesen der Sachmet:
Einst hatte Re über Götter, Menschen und Dinge zusammen geherrscht. Mit der Zeit aber wurde er alt, seine Knochen waren Silber, seine Gebeine Gold, sein Haar echtes Lapislazuli. Das merkten die Menschen und dachten sich Böses gegen ihn aus, aber dem Gott blieben ihre blasphemischen Gedanken nicht verborgen, und er sagte zu einem seiner Gefolgsleute: ›Rufe mir doch Hathor-Sachmet, mein linkes Auge, und Schu und Tefnet, Keb und Nut, sowie die Väter und Mütter, die mit mir gewesen sind, als ich im Gewässer Nun war, so wie auch den Gott Nun … Du wirst sie aber leise herführen, dass die Menschen es nicht sehen, damit ihr Herz nicht fliehe. Du wirst mit diesen Göttern zum Palaste kommen, dass sie ihre Ansicht sagen …‹ Man führte diese Götter herbei und sie warfen sich zu Boden vor seiner Majestät und sagten: ›Rede zu uns, dass wir es hören.‹ Da sagte Re zu dem Nun: ›Du ältester Gott, aus dem ich entstanden bin, und ihr Götter-Vorfahren, seht die Menschen, die aus meinem Auge entstanden sind, die planen etwas gegen mich. Sagt mir, was ihr dagegen tun würdet. Ich wollte sie nicht töten, bis ich gehört hätte, was ihr dazu sagtet.‹ – Die Majestät des Nun sagte: ›Mein Sohn Re, der Gott, der größer ist, als sein Vater und seine Schöpfer! Bleibe du nur auf deinem Throne sitzen; die Furcht vor dir ist schon groß, wenn nur dein Auge sich gegen deine Verschwörer richtet.‹ – Und als Re nun sein Auge auf sie richtete, da flohen sie in die Wüste, denn ihre Herzen fürchteten sich wegen dessen, was sie gesagt hatten. Die Götter aber rieten ihm weiter, er solle sein Auge den Verschwörern nachsenden, damit es sie schlage. Und Re entsandte sein Auge, und es stieg herab, als die Göttin Sachmet. Diese Göttin aber kehrte
Weitere Kostenlose Bücher