Kauft Leute
eingezäunt mit Stacheldraht und von Wachleuten patrouilliert. Hunderte gab es davon, überall in der Stadt. Hast du nach meinen
Unterlagen
gesehen?«
»Ja, sieht alles unberührt aus. Würde sich Sandra wirklich an deinen Skripten vergreifen?«
»Freilich, hat sie schon. Aber die meisten Papiere, die ich in meinem Schrank aufhebe, sind Schrott, sie könnte gar nicht unterscheiden, was wichtig ist und was nicht.«
Michi stand auf und setzte übergangslos seine Rede über die Zwangsarbeiter fort: »Überall hat man ihre Arbeit in Anspruch genommen, in den Rüstungsbetrieben, bei der Bahn und Post, sogar im Kulturbereich, im Theater! Und bei ganz viel Firmen, die es heute noch gibt, die heute noch groß sind, oder größer noch, und die sich einen Schmarrn drum kümmern, den Leuten von damals eine gerechte Entschädigung zu zahlen, oder ihren Kindern oder Verwandten.«
Christian nickte bloß und fragte sich, ob Michi an diesem trostlosen Ort tatsächlich an das Elend anderer dachte.
»Man hat die Leute aus ihrem Leben herausgerissen, in der Ukraine oder Tschechien zum Beispiel, sie wurden sprichwörtlich vom Feld weg geraubt, in Züge gestopft und zu uns gebracht, wo ihnen für nichts oder ein paar Pfennig Arbeit angeschafft wurde. Oft erst nach Jahren, als der Krieg vorbei war, kamen sie zurück nachhause. Aber dort wollten die Leute nichts mehr mit ihnen zu schaffen haben, weil sie für den Feind gearbeitet hatten, weil sie die Waffen hergestellt haben, mit denen ihre eigenen Leute in Schach gehalten wurden.
Ich weiß, ich sollte mich nicht mit ihnen vergleichen, das ist schäbig, mir geht es ja nicht schlecht, aber dieser Raum … der macht etwas mit mir.«
Christian breitete eine Decke aus, und beide setzten sich darauf. Michi begann, sich über die Platte herzumachen.
»Wie oft musst du hier sein?«, fragte Christian.
»Ach, halb so schlimm, alle zwei Wochen mal. Wenn’s hoch kommt!« Michi nahm einen Schluck Cola direkt aus der Flasche. »Meine Großmutter war eine von ihnen …«
»Sie war eine Zwangsarbeiterin?«
»Sie kam aus einem Dorf in der Ukraine. Das Dorf gibt es heute nicht mehr, es verschwand in den Siebzigern unter dem Kiewer Meer, dem Stausee. Sie war fünfzehn, als sie deportiert wurde. An dem einen Tag stand sie noch mit dem Ochsen am Feld und am Tag darauf wurde sie schon mit ihrer Schwester und einem Haufen anderer Mädchen in Holzwaggons verfrachtet und nach München gebracht. Sie sagten ihnen, der Krieg werde nur noch sechs Monate dauern. Er dauerte noch drei Jahre. Sie kamen in ein Lager in Moosach. Es gab kaum etwas zu essen und die Arbeit war hart. In anderen Lagern war es noch schlimmer, da wurden die Arbeiter wie Hunde geprügelt, aber meine Großmutter und ihre Schwester hatten Glück. Sie fanden München schön, es war alles so sauber und aufgeräumt! Bis die Bombardements begannen.«
»Blieb sie hier nach dem Krieg?«
»Man bot den Mädchen an zu bleiben. Aber sie hatten andere Pläne: Die Schwester meiner Großmutter wollte nachhause zurück. Und meine Großmutter hatte sich in einen Italiener aus einem anderen Lager verliebt. Er nahm sie mit nach Neapel und sie haben geheiratet. Ihre Tochter, meine Mutter, kam später zurück nach München, wo sie meinen Vater traf, einen kleinen Beamten in der bayerischen Staatskanzlei.«
»Das heißt, du bist zu einem Viertel ukrainisch, zu einem italienisch?«
»Ja. Ich habe die Liebe zur Musik und zum Wein von den Italienern, die Schwermut von der russischen Seite, und mein deutscher Anteil sorgt dafür, dass mich beides nicht von einem Leben in völliger Mittelmäßigkeit abhält.«
Christian spuckte einen Olivenkern in seine Hand. »Das ist doch wohl lächerlich, du hast eine eigene Fernsehserie gehabt!«
»Ich bin Mitte vierzig und habe
ein
Projekt im Fernsehen verwirklicht, mit dem ich halbwegs zufrieden bin. Was ist aber mit all den gescheiterten Film- und Theaterprojekten, an denen ich davor und danach gearbeitet habe? Nein, glaub mir, gemessen an dem, was ich mir einmal vorgenommen habe, ist Mittelmäßigkeit noch ein Euphemismus.«
Am frühen Abend erlaubte Corinna Michi, wieder nach oben zu kommen. Aus Dankbarkeit begab sich Michi unverzüglich in die Küche und begann zu backen. Er servierte den
Babka
, einen süßen Hefekuchen mit Schokoladeglasur, der in Osteuropa an Festtagen gereicht wurde, während Corinna, Christian und Terese vorm Fernseher saßen und
Wetten, dass
… schauten. Charlotte Roche machte ihren Job
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