Kay Susan
sehen.«
Sein erleichterter Seufzer wirkte dennoch schmerzhaft.
»Dann hat er also eine ungefährliche Seite«, murmelte er vor sich hin, »das ist gut.« Unsicher sah er zu mir auf. »Darf ich hineinsehen, Mama?«
»Wenn du willst.«
Ich sah zu, wie er die Rückseite des Spiegels betrachtete und mit geschickten Fingern eine lose Ecke der Metallfolie anhob.
»Es ist ja nur Glas drunter!« rief er erstaunt. »Es ist nur Glas und ein Stück Metall! Wie kam dann das Gesicht da hinein?«
Mir war kalt vor Elend, als er zu mir aufsah. Bei all seiner geistigen Brillanz und Gelehrsamkeit entging ihm hier die schlichte Wahrheit.
»Das Gesicht war nicht innen, Erik, es war draußen. Ein Spiegel gibt nur das Bild jedes Gegenstands wieder, den man ihm vorhält.«
»Und wie verwandeln sich die Bilder dann in Ungeheuer?« fragte er ernsthaft. »Ist das Zauberei? Wirst du mir zeigen, wie es funktioniert?«
Ich spürte Tränen aufsteigen, und als ich den Spiegel aufnahm und hineinschaute, merkte ich, daß er mir über die Schulter sah. Ich veränderte den Winkel des Spiegels, so daß er mein Bild sehen konnte, und er schrie entzückt auf: »Schau, du bist zweimal da! Der Spiegel kann also auch etwas Schönes zaubern.«
»Erik, das ist kein Zauber. Immer, wenn jemand in den Spiegel schaut, sieht er ein Bild seiner selbst . . . nichts weiter. Ein Spiegel hat nicht die Macht, etwas zu zeigen, was nicht da ist.«
»Aber ich habe ein Ungeheuer gesehen«, beharrte er ärgerlich. »Ich habe eines gesehen!«
Ich legte den Spiegel mit der spiegelnden Seite nach unten vor ihn auf den Tisch.
»Ja«, sagte ich leise, »ich weiß, was du gesehen hast.«
Dann ließ ich ihn allein, ging ins Nebenzimmer und wartete auf einen Schrei des Entsetzens. Aber er kam nicht. Als ich hineinschaute, sah ich, daß er mit dem Spiegel spielte, ihn vorsichtig an einer Ecke hielt und in einem Winkel, der ihm sein Gesicht nicht zeigte. Bald darauf hörte ich ihn nach oben gehen. Ich betrat das Zimmer und wollte den Spiegel vom Tisch nehmen, aber er war nicht mehr da.
Erik kam zum Abendessen nach unten, scheinbar vollkommen ruhig, und fragte, ob er den Spiegel behalten dürfe. Überrascht und erleichtert gestattete ich ihm das, ohne weiter zu fragen. Ich hoffte, das Akzeptieren des Schrecklichen läge nun hinter uns.
Doch am nächsten Tag fand ich den Spiegel in ein Dutzend Stücke zerbrochen; alle Stücke lagen sorgfältig mit der spiegelnden Seite nach unten auf der Kommode in seinem Zimmer. Als ich unwillig fragte, warum er das getan habe, erklärte er geduldig, auf diese Weise könne er besser zaubern. Und dann legte er die Spiegelstücke in so seltsamen Winkeln auf eine Zeichnung, daß sie grotesk verzerrte Bilder wiedergaben.
»Siehst du, Mama, du hast dich geirrt«, sagte er triumphierend. »man kann mit einem Spiegel alle möglichen Zauberkunststücke machen. Ich frage mich, was sich zeigen würde, wenn man die Spiegelscherben biegen könnte. Glaubst du, daß sie weich genug zum Biegen werden, wenn ich sie in Feuer lege?«
»Ich habe keine Ahnung«, sagte ich entsetzt. »Versuch nur nicht, etwas so Dummes zu tun! Du würdest es nur schaffen, dich zu verbrennen. Erik, hörst du mir überhaupt zu?«
»Ja, Mama«, sagte er unschuldig. Aber er sah mich nicht an, während er das sagte, und diese bereitwillige Zustimmung machte mich mißtrauisch. Normalerweise gab er nicht so leicht nach.
Ich hätte ihm die Glasstücke auf der Stelle wegnehmen müssen, aber ich zögerte, um nicht einen seiner schrecklichen Wutanfälle auszulösen. Vielleicht sollte ich froh sein, daß er sein Entsetzen vor einem so simplen, alltäglichen Gegenstand verloren hatte. Und wenn er sich verbrannte . . . Nun, das würde er dann kein zweites Mal tun. Ich beschloß, die Sache auf sich beruhen zu lassen.
»Madeleine!« – Marie kam in die Küche, und als sie mit einer behutsamen Geste die Tür hinter sich geschlossen hatte, merkte ich, daß ihr Gesicht angstverzerrt war.
»Ich denke, du solltest wissen«, erklärte sie flüsternd, »daß Erik mich gebeten hat, ihm etwas Glas und Metall zu kaufen . . . und einen Glasschneider. Er hat mir Geld gegeben und mich gebeten, dir nichts davon zu sagen.«
Sie streckte die Hand aus und zeigte mir eine Hundert-FrancNote. Ich runzelte die Stirn.
» Er hat also das Geld genommen! Und was hast du ihm geantwortet?«
Sie seufzte. »Nun, ich wußte natürlich, daß es nicht sein Geld sein konnte. Ich sagte ihm, es sei unrecht zu stehlen. Doch er sah mich
Weitere Kostenlose Bücher