Kaylin und das Geheimnis des Turms
hatte nur auf die Art gesprochen, die hier akzeptiert wurde. Und die drei, die ihr mit einer Art Stolz gegenüberstanden, hatten sie deutlich gehört. Sie zeigten keine Angst, sie zeigten keine Sorge. Das Blut auf dem Boden hätte genauso gut Marmor sein können. Oder Teppich.
Kaylin versuchte, nicht hineinzutreten.
Sie versuchte, nicht zu dem Barrani zu sehen, dessen Kehle so präzise zertrümmert worden war.
“Verschwende kein Mitleid”, sagte Teela Kaylin mit ihrer hoheitsvollen, hochkastigen Stimme. “Bei Hofe gibt es davon nicht viel, und falls doch, wird es nicht mit Respekt betrachtet.”
Severn flüsterte Kaylins Namen. Ihren alten Namen.
Sie sah zu ihm auf, und er schien – nur für einen Augenblick – so viel größer, so viel sicherer zu sein, als sie es von sich je hoffen konnte. Aber seine Miene war ernst. Er streckte seine Hand aus, als sie es nicht konnte, und zog die Vorhänge zur Seite.
Im Bett lag ein Barrani.
Seine Augen waren geschlossen, seine Arme auf die Art über seiner Brust gefaltet, die man in Särgen zu sehen bekam. Er war blass – doch das waren die Barrani immer – und unbeweglich. Sein Haar war, wie seine Arme, kunstvoll und ordentlich zurechtgelegt worden. Um seinen Kopf lagen Blumen, genau wie in der Schale seiner hohlen Hände.
“Wer ist er?”, fragte sie und vergaß sich einen Augenblick. Sie sprach Elantranisch.
“Er ist”, sagte Teela, die Stimme weit entfernt, in Barrani, “der jüngste Sohn des Lords unseres Hofstaats.”
Kaylin streckte eine Hand aus, um ihn zu berühren. Ihre Hände hielten ein Stück von seinem Gesicht entfernt inne. Es schien … irgendwie falsch. Ihn zu stören. “Wie heißt er?”, fragte sie, um Zeit zu schinden.
Teela antwortete nicht.
Darin lag eine Warnung. Kaylin streckte wieder die Hand aus, und wieder hielt ihre Hand inne. Aber dieses Mal war das Gefühl der Falschheit stärker. Schärfer. Sie runzelte die Stirn. Ihre Finger kribbelten auf die gleiche Art wie … die Tür des Falkenlords.
Magie.
Sie knirschte mit den Zähnen. Spannte sich an. Alle ihre Bewegungen schienen ihr selbst ungelenk und übertrieben.
Aber es
waren
ihre. “Hier ist Magie”, sprach sie leise.
Teela reagierte wieder nicht.
Kaylin öffnete ihre Handflächen und zwang sich dazu, sie auf die einzige unbedeckte Haut, die sie berühren konnte, zu legen: sein Gesicht, sein perfektes Gesicht. Jetzt kroch Magie durch ihre Haut, ihre Arme hinauf und brannte scharf.
Wenn ich explodiere, dachte sie grollend, bringe ich dabei hoffentlich jemanden um. Ihr war egal, wen.
Sie zwang ihre Hände hinab und weiter hinab, als fasste sie aus großer Höhe nach ihm. Sie wäre gefallen, aber Severn war bei ihr und hielt sie fest. Sie flüsterte seinen Namen, jedenfalls dachte sie das. Sie konnte spüren, wie ihre Lippen sich bewegten, aber sie hörte keinen Ton.
Keinen Ton bis auf das Knistern der Magie, das Feuer in ihr. Sie presste ihre Hände weiter auf den Körper, es war anstrengend. Wie Gewichtheben, nur in die andere Richtung. Weil sie stur war, hielt sie an dem Gedanken fest und fuhr fort.
Severn hatte seinen Arm um sie gelegt, sie konnte es fühlen. Sie konnte ihre Füße nicht länger spüren, und auch ihre Beine, die vor Erschöpfung fast zitterten, schienen taub. Sie flüsterte seinen Namen wieder. Es war beinahe ein Gebet, jedenfalls für Kaylins Verhältnisse.
Falke, dachte sie. Und ein Falke war sie wirklich.
Sie stürzte, als ihre Hände endlich eine Verbindung herstellten.
Kaylin hatte sich vorher noch nie um einen Barrani gekümmert. Oh, sie hatte schon mit gelegentlichen Kratzern ausgeholfen, die sie sich zugezogen hatten – soweit “Hilfe” Morans Salben und beißende Kommentare bedeutete –, aber sie hatte noch nie einen
geheilt
. Die Barrani besuchten die Hebammen von Elantra nicht. Leontiner taten es, Aerianer taten es, selbst die Tha’alani hatten sie bereits um ihre Hilfe gebeten.
Sie alle waren sterblich.
Die Barrani waren es nicht, und das rieben sie den Leuten nur zu gern unter die Nase.
Kaylin hatte sich auch noch nie um ihre Jungen, ihre Waisen gekümmert. In den Findelhallen gab es nur menschliche Waisen.
Sie hatte ihre Hilfe einmal einem Drachen angeboten, und er hatte sie höflich – und bestimmt – abgelehnt. Sie verstand jetzt, warum.
“Er lebt”, gelang es ihr zu sagen. Alles Weitere wäre ein Kampf gewesen. Denn
leben
bedeutete in diesem Fall etwas anderes als bei all den anderen Malen, bei denen sie Zuschauern
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