Kaylin und das Reich des Schattens
konnte sich selbst nicht deutlich sehen. Nicht so deutlich wie ihn.
“Du bist ein Gefäß voller Makel”, fuhr er fort, “und du kannst nicht ganz gemacht werden.”
Er verurteilte sie also. Fast senkte sie ihren Kopf. Aber nur fast.
“Was bist du?”
Eine aberwitzige Frage. Sie bildete eine Antwort, ohne Worte, und bot sie ihm an. Die Sprache verließ sie wie farbiges Licht.
“Was ist ein Falke?”
Ein Falke. Hatte sie das gesagt?
Ein Offizier der Armee der Lords der Gesetze.
Aber das war keine Antwort. So etwas sagte man zu einem sturen Türsteher, einem aufgeblasenen Kaufmann, einem Taschendieb. Sie hatte sich selbst die Frage nie gestellt, höchstens, wenn sie die Grundausbildung gerade so richtig satthatte. Die Falken waren ihr Zuhause, und zu Hause war etwas, was sie nicht infrage stellen mochte, weil sie es dann vielleicht verlor.
“Was”, fragte er noch einmal, “ist ein Falke?”
Falken waren Raubvögel. Mit guter Sehkraft. Sie kreisten über der Stadt und wurden von ihr beherbergt. Sie flogen auf Befehl von Lord Grammayre und kehrten auf dieselbe Art zurück. Aber nein, nein, das war falsch.
Falsch, weil sie für so etwas keine
Zeit
hatte.
“Warum?”
Weil, dachte sie, und langsam wurde ihr Ärger größer als der Schmerz, Catti zwar in Sicherheit war – aber Catti war nur ein einziges Kind.
Kaylin war ein Falke geworden. Gut, sie hatte fast jeden Kurs, zu dem man sie gezwungen hatte, nicht bestanden. Sie hatte gelernt zu lesen, zu schreiben und Barrani zu sprechen, weil der Falkenlord mehr als deutlich gemacht hatte, dass sie ohne diese Fähigkeiten nie in seinem Dienst fliegen würde. Sie hatte die Gesetze gelernt, und sie hatte gelernt, sie zu umgehen, wenn es nötig war. Sie hatte mehr Zeit, als sie zugeben wollte, damit verbracht, mit Kaufleuten, Bürokraten, ach verdammt, einfach jedem, über die Feinheiten der Gesetze zu streiten.
Aber letztendlich war das alles vollkommen unwichtig.
Denn am Ende dieses Tages würde ein weiteres Kind tot sein, ein weiteres Kind würde ins Archiv eingehen, ihr oder sein Körper von Zeichen verunstaltet und ausgeweidet als Teil eines grausamen Rituals, das sie nicht aufhalten konnte.
Du kannst sie nicht alle retten.
Wer hatte das gesagt? Marcus?
Und was soll das Ganze dann?
Willst du in einer Welt leben, in der es tatsächlich niemand auch nur versucht?
Nein. Und es gab nur einen Weg,
nicht
in dieser Welt zu leben. Sie musste es selber versuchen. Sie musste mit einer Niederlage umgehen und die Schuldgefühle ertragen lernen. Sie musste es weiter versuchen. Sie musste ihre Wahl treffen.
Sie hob ihr Kinn und sah ihm in die Augen. Sie konnte jetzt klarer sehen.
“Du bist voller Makel”, sagte er noch einmal, doch dieses Mal klang er resigniert, nicht richtend. “Du bist sterblich. Das hatten wir nicht vorausgesehen. Was Alter kennt, was Tod kennt, kennt auch Veränderung … und kann nie Perfektion kennen. Der Fehler lag in dir, noch ehe das Zeichen verändert wurde. Aber du warst auserwählt”, fügte er hinzu. Sie konnte das Knistern in seinen Worten hören. Wie Holz, das von Feuer verzehrt wurde. Oder von Zeit.
“Du kannst den Weg nicht öffnen”, sagte er ihr. “Und du kannst ihn nicht schließen. Du bist ein Schlüssel.” Er hob seine Hände. “Die Welt verändert sich, hat sich bereits verändert. Du warst auserwählt. Du
bist
auserwählt. Was du bist, muss reichen, auch wenn du für das, was vor dir liegt, zu zerbrechlich sein solltest. Dich reinigen bedeutet dich zu zerstören.”
Er legte diese Hände auf ihre Stirn.
“Etwas ruft uns.” Er hielt inne. “Etwas hat unsere Bruderschaft gerufen. Was einen von uns erweckt, weckt alle. Lass den Ruf verstummen, ehe es zu spät ist, und wir werden wieder schlafen.”
Wie? Wie konnte sie etwas verstummen lassen, was sie nicht einmal hören konnte? Wie konnte sie jemanden davon abhalten, zu rufen, wenn sie ihn nicht finden konnte?
Seine Augen wurden so groß, dass sie sein halbes Gesicht einnahmen. “Ich kann es dich nicht lehren”, sagte er. “Du würdest altern und vergehen, ehe du gelernt hast, zu hören. Blicke in dich selbst, und nur dorthin. Du trägst jetzt ihren Makel. Wenn das nicht alles sein soll, lerne, zu sehen.”
Ihre Augen begannen zu brennen. Sie konnte sehen, wie seine Finger sich vorsätzlich und langsam bewegten, als wären sie Pinsel und sie selber das Pergament. Sie fragte sich, was er auf sie schrieb, ehe die Schmerzen zu groß wurden, um sich noch
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