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Kein Blick zurueck

Kein Blick zurueck

Titel: Kein Blick zurueck Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nancy Horan
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sechsunddreißigjährigen Witwe mit Namen Aldine, die als Näherin in einer Fabrik arbeitete, um ihre drei Kinder durchzubringen. Am ersten Abend hatten Mattie und Mamah dort um einen Tisch herumgestanden – Stühle gab es nicht – und altbackenes Brot und wässrigen Kaffee zu sich genommen. Am nächsten Tag und auch die Tage darauf waren sie durch die ärmsten Gegenden der Stadt gezogen, hatten an Hüttentüren geklopft und Streitschriften verteilt. Selbst in den schlimmsten Bruchbuden wurden sie meist von Menschen begrüßt, die das Wahlrecht unterstützten.
    Doch eines Nachmittags, als sie in einer Straße mit zahlreichen Kneipen auf beiden Seiten ihre Flugblätter verteilten, hatte sich ihnen ein wütender Kneipenwirt in den Weg gestellt. Er war aus seiner Bar gerannt gekommen und hatte mit einem weißen Handtuch gewedelt, um sie zu verscheuchen.»Verschwindet!«, hatte er sie angeschrien. Verdattert waren Mamah und Mattie wie angewurzelt stehen geblieben. Mamah begriff, dass keine von ihnen beiden bis dahin von irgendjemandem gehört hatte, sie solle verschwinden. Das Geschrei des Mannes wurde lauter. »Wir brauchen hier keine Fremden, die unsere Leute aufwiegeln.« Weitere Männer kamen lachend über die Straße gelaufen. Bald waren Mamah und Mattie von einer Schar feindseliger Männer umringt.
    »Wo kommt ihr Damen denn her?«, erkundigte sich einer, der etwas besser gekleidet war als die anderen. Sie alle rochen nach Bier und Schweiß.
    Mamah hob trotzig das Kinn. »Aus Michigan.«
    »Dann sind Sie aber weit gereist.« Ein Betrunkener spuckte dicht vor Mamahs Schuhen einen Pfriem auf den Boden. »Wie’s scheint, sind die, die am lautesten schreien, die, die zu Hause keinen Mann haben«, sagte der erste Mann mit hochgezogenen Augenbrauen, »der sie glücklich macht.« Die Männer johlten.
    »Mein Herr«, setzte Mamah an, doch der Mann redete einfach weiter und zeigte mit dem Finger auf ihre Nase.
    »Und erzählen Sie mir nichts von ›Steuern ohne Mitbestimmung‹, meine Dame. Von hundert Frauen ist es immer nur eine, die überhaupt Steuern zahlt.«
    »Mein Herr«, sagte Mamah, »damit unterstützen Sie eher mein Argument als Ihres. Das ist ein Zeichen dafür, wie wenigen Frauen es gelingt, eine anständige Anstellung zu finden.«
    »Phhh«, sagte der Mann und machte eine wegwerfende Handbewegung.
    Bis dahin hatte Mattie wie erstarrt inmitten der Gruppe gestanden. Sittsam wie eine Pfarrersgattin mit weißen Handschuhen und Strohhut, drehte sie sich langsam im Kreisund sah einem nach dem anderen in die Augen. »Meine Herren, Sie arbeiten hart, das sehe ich.« Sie war einundzwanzig, und ihre Stimme klang hoch und lieblich. »Sie haben Frauen und Kinder, die sie lieben, dessen bin ich mir sicher. Befindet sich unter Ihnen ein Mann, der schon einmal daran gedacht hat, was das Schicksal für seine Familie bereithielte, falls er sterben sollte? Möchten Sie, dass Ihre Frauen machtlos sind und politisch mit Dummköpfen und Kriminellen und Verrückten in einen Topf geworfen werden? Möchten Sie, dass Ihre Frau weniger verdient als ein Mann, obwohl sie die hungrigen Mäuler Ihrer Kinder stopfen muss? Sehen Sie sich dieses Kind dort drüben an.« Sie nickte in Richtung eines Jungen von ungefähr acht Jahren, der auf der anderen Straßenseite in einer Kneipe den Boden aufwischte. Alle drehten sich um und sahen ihn an. »Möchten Sie tatsächlich, dass Ihre Kinder schon im zarten Alter gezwungen wären zu arbeiten, so wie dieses Kind?«
    Daraufhin brummten die Männer etwas in ihren Bart und zerstreuten sich, und zurück blieb eine Mamah, die mit offenem Mund ihre sanftmütige Freundin anstarrte.
    Du hast mit keinem Wort gelogen, Mattie. Du hast mit dem Herzen gesprochen.
    Seit sie Lizzies Brief gelesen hatte, war Mamah nahezu verstummt. Seit drei Tagen spielte sie in Gedanken wieder und wieder durch, was in dem Haus in der Mapleton Street geschehen sein mochte. Sie stellte sich John und Martha vor, die die Probleme spürten und sich wahrscheinlich zu Tode fürchteten, während sie in diesem Heim einer Kranken auf ihren Vater warteten, damit er sie nach Hause holte. Sie betete, dass die Kinderfrau vernünftig genug gewesen war, die Kinder im Freien spielen zu lassen. Dennoch, was hatten sie alles gesehen oder gehört?
    Sie stellte sich Mattie vor, im Empfangszimmer aufgebahrt, wo Scharen von Nachbarn ihre blassen, sommersprossigen Hände sehen konnten, die wie gefleckte Lilien auf ihrer Brust lagen. Vermutlich standen

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