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Kein Blick zurueck

Kein Blick zurueck

Titel: Kein Blick zurueck Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nancy Horan
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aus diesem traurigen Anlass Kuchen auf dem langen Esszimmertisch, und die Spiegel waren mit Krepp verhängt. Aldens Mutter würde alles auf traditionelle Weise geregelt haben. Obwohl Mattie Begräbnisse verabscheut hatte.
    Sie konnte sich Alden vorstellen, der verwirrt und gramgebeugt diese Besucherscharen über sich ergehen ließ, die ihm die Hand schüttelten und sagten: »Sie ist jetzt an einem besseren Ort.«
    Das ist eine Lüge, die die Lebenden einander erzählen, nicht wahr, Mattie? Welcher Ort könnte besser sein als der in deiner eigenen, lebendigen, atmenden Haut?
    Auf ein schwaches Herz hatte es keinerlei Hinweis gegeben. Mattie verfügte über eine starke Konstitution und den stärksten Lebenswillen von all den Frauen, die Mamah kannte. Als Mamah sie zum Abschied geküsst hatte, hatte sich Matties Gesicht vor Freude zu unzähligen Fältchen verzogen und war von einem wilden Heiligenschein aus blondem Kräuselhaar umrahmt gewesen. Sie hatte ihr Baby gestillt und von einem Ohr bis zum anderen gegrinst.
    In der vergangenen Nacht hatte Mamah sich von Träumen geplagt in ihrem Bett hin und her geworfen. Sie sah den Körper einer Frau in einem sauberen Nachthemd, der dalag, als schliefe die Frau. Mamah sah sich selbst auf dem Bett sitzen und eine Hand ausstrecken, um den Arm ihrer Freundin zu berühren. Oder war es der ihrer Schwester? Sie erwachte, als sie die Kälte spürte.
    Sie erinnerte sich an die Stunden unmittelbar nach Jessies Tod, als sie zu ihr hineingegangen war, um ein letztes Mal neben ihrer Schwester zu sitzen. Der Geruch nach Bleicheund Kerzenwachs hatte unangenehm im Zimmer gehangen. Mamah wusste damals bereits, wie der Tod aussah. Sie hatte den leblosen Körper ihrer Mutter gesehen. Sie hatte ihn berührt, so wie sie den Körper ihrer Schwester berührte, und sie wusste, Matties Körper hätte sich genauso angefühlt. Als Jessie starb, war es, als hätte ihre Seele sich einfach aus dem Staub gemacht. Was zurückblieb, war eine leere, nutzlose Hülle, genauso wenig ein heiliges Gefäß wie ein alter Koffer. Was Mamah an Jessies Tod überwältigt hatte, war, wie rasch, wie vollständig das Fleisch den Übergang von Vitalität zu nicht atmenden Lumpen zurücklegte. Was der Körper zuvor in sich getragen hatte, diese Mischung aus Zärtlichkeit, Witz, tiefer Loyalität, Intelligenz – die Jessies Wesen ausmachten –, hatte sich einfach in Luft aufgelöst.
    Mamah wusste, wie Verlust funktionierte. Sie würde um Mattie trauern und sich grämen, wie sie es für Jessie getan hatte, und eines Morgens würde sie aufwachen, und es würde ihr gutgehen. Sie würde ihr Leben an der Stelle wieder aufnehmen, an der sie es unterbrochen hatte. Nach Ablauf eines Jahres würde die kostbare Freundin, um die sie so sehr getrauert hatte, aus ihren Alltagsgedanken verschwunden sein. In zwei Jahren würde sie ohne ein Foto Schwierigkeiten haben, sich Matties Nase oder ihren Mund vorzustellen. Von all den grausamen Lehren, die einem der Tod erteilte, schien ihr diese die grausamste zu sein.
    Mamah stand auf und verließ eilig die Kirche.
    Am Spätnachmittag gingen sie und Frank Unter den Linden spazieren. Der Regen hatte ausgesetzt. Sie empfand einen sehnsüchtigen Stich, als sie zwei Jungen ungefähr in Johns Alter vor einer Apotheke zum Schein einen Boxkampf austragen sah. Sie blieb stehen und schaute ihnen zu, wie sie einander abwechselnd spielerisch knufften oder sichkühn in Positur stellten wie schmalbrüstige kleine Jack Johnsons.
    »Die Welt dreht sich weiter«, sagte sie, als sie ihren Spaziergang fortsetzten. »Jeder, der einmal jemanden verloren hat, denkt das. Allerdings ist es merkwürdig. Es ist immer wieder überraschend zu sehen, wie die Menschen weitermachen.« Frank hielt ihren Ellbogen und spazierte mit ihr den Bürgersteig entlang, wo sie immer wieder vor dem einen oder anderen Schaufenster stehen blieben.
    »Ich erinnere mich an die Zeit unmittelbar nach Jessies Tod«, sagte Mamah. »Ich war bei einem Picknick der Kirchengemeinde, und dort wurde ein Sackhüpfen veranstaltet. Ich schaute mich um und sah all diese Leute, die, ein Bein in einem Kartoffelsack, wie verrückt herumhüpften. Sie lachten, aber gleichzeitig meinten sie es auch ganz ernst und wollten das Rennen gewinnen. Und ich erinnere mich daran, dass ich dachte: Wissen diese Leute denn nicht, dass sie sterben werden? «
    Sein Blick hielt ihren fest. »Was hätte sie gewollt, dass du tust?«
    »Mattie?«
    »Ja.«
    »Sie hätte gewollt,

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