Kein Blick zurueck
Mamah.
»Um mich inspirieren zu lassen, betrachte ich lieber eine Pinie. Sie bringt mir mehr über Architektur bei als der ganze Marmor von St. Peter. Eine Pinie spricht zu meiner Seele. Und was die Rettung meiner Seelen anbelangt, du weißt, wozu ich in diesem Fall neige.«
»Da haben wir es, Taylor. ›Marienverehrung!‹« Mamah schlug zur Betonung mit der Faust auf den Tisch, eine Imitation Franks bei einer seiner Tiraden. Es handelte sich umeines von Franks Lieblingswörtern dieser Tage, und alle drei lachten. Sowohl sie als auch Taylor waren verschiedentlich von ihm über die Besessenheit der Renaissancekünstler von der Heiligen Jungfrau belehrt worden.
»Sie ist überall, nicht wahr? Ich verstehe, warum. Aber das Resultat verblüfft mich – die Menschen verbeugen sich vor Statuen. Wo bleibt Gott dabei?« Er stand auf und öffnete noch eine Flasche Wein. Sie bemerkte es, weil sie aufgehört hatte zu trinken und Taylor als gläubiger Mormone den ganzen Abend nur Wasser zu sich genommen hatte. Gewöhnlich trank Frank sehr wenig, wenn überhaupt.
»Hier in Italien ist alles mehr oder weniger festgelegt«, sagte er, als er den Wein einschenkte. »Es wäre in der Tat schwierig, in einem Land Architektur zu praktizieren, dessen Traditionen so festgefügt sind wie in Italien. Doch in Amerika ist jetzt genau der richtige Moment. Die Landschaft gehört dir, um sie zu bebauen. Sie sind in der Architektur ein junger Mann, Woolley, frei von jeder Verpflichtung.«
»Sie sind nicht gerade alt, Mr. Wright.«
»Nein«, sagte Frank nachdenklich, »und ich habe nicht vor, das Feld zu räumen, auch wenn ich zwei Hände brauche, um die Leute abzuzählen, die sich das wünschen. Doch wenn wir es jemals schaffen wollen, in Amerika eine eigenständige Architektur hervorzubringen – eine demokratische Architektur, die Seele und Geist eines Ortes zum Ausdruck bringt –, dann müssen wir die Art und Weise verändern, wie wir die jungen Leute unterrichten. Gibt es in Amerika heute irgendwo einen Architekten, der an einer Universität ausgebildet wurde und den Kopf nicht voller Beaux-Arts-Unsinn hat? Sie sind allesamt Dekorateure, verdammt nochmal!« Frank marschierte inzwischen auf und ab. »Wir müssen den jungen Leuten zeigen, dass Design über griechische Säulen hinausgeht. Was ist aus dem Geistder Individualität geworden? Mein Gott, ist das nicht die eigentliche Idee unserer Demokratie? Und was tun die amerikanischen Architekten? Sie imitieren die architektonischen Traditionen von Monarchien!«
Er blieb mit weit aufgerissenen Augen wie angewurzelt stehen. »Das alles könnte ich ändern. Das könnte ich tatsächlich. Gebt mir eine Handvoll ungeschulter junger Leute, und wir verändern das Antlitz Amerikas. Wir pfeifen auf Klassenzimmer und Tafeln. Das einzige Buch, das sie bräuchten, wäre der Viollet-le-Duc, Discourses on Architecture – den könnten sie selbst lesen. Das habe ich getan. Darüber hinaus wäre mein Zeichentisch das Klassenzimmer. Ich würde sie mit auf Entdeckungsreise nehmen. Sie über meine Schulter schauen lassen. Wenn sie tatsächliche Probleme lösen könnten, würden sie mit dem Titel ›Architekt‹ ausgezeichnet. Und dann würden sie hinausgehen und die Welt verändern.«
Frank nahm wieder Platz und redete weiter, während Taylor aufmerksam zuhörte und Mamah an den Rand der Unterhaltung driftete. Die Musik von nebenan erklang jetzt leiser. Sie wollte sich jedes Detail dieser Nacht einprägen – das Essen, die Musik und die Kameradschaftlichkeit. Franks weißes Hemd leuchtete in der Dunkelheit, und in dem schwarzen Tal unter ihnen blinkten unzählige Lichter. Es war beinahe elf, als sie feststellte, dass sie Taylors Geschenke vergessen hatte.
Sie holte zwei schmale Päckchen, die sie in Geschenkpapier eingewickelt hatte – ihre eselsohrigen Italienisch- und Deutsch-Wörterbücher, jedes mit einer eigenen Widmung. Sie überreichte sie ihm, und er wirkte auf sympathische Weise verlegen. Frank schenkte ihm einen schönen Stift.
Die Kerzen brannten nieder, und allmählich wurde das Gespräch einsilbiger. Niemand schien vom Tisch aufstehen zuwollen. Als sie zu Frank hinüberblickte, sah sie jedoch, dass ihm Tränen über die Wangen liefen.
Mamah stand auf. »Ich sage ungern gute Nacht, aber ich bin so müde, Taylor. Sehe ich Sie morgen früh?« Sie half Frank auf die Beine. Er löste sich von ihr und stolperte wortlos ins Haus.
»Habe ich etwas Falsches gesagt?«
»Nein, nein, Taylor, es ist
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