Kein Blick zurueck
alles in Ordnung. Er ist erschöpft, glaube ich.«
Sie fand Frank im Wohnzimmer, wo er am Klavier kauerte und mit einem Finger eine alte Melodie anschlug. Sie ging zu ihm und legte ihm die Hand auf die Schulter.
»Ich gehe zurück«, sagte er. Er hörte auf zu spielen.
Mamah stand da, ohne sich zu rühren, und wartete.
Er begann, sich die Augen zu reiben. Er tat das gelegentlich, ein Tic, wenn er etwas Schwieriges zu sagen hatte. »Nicht zu Catherine. Aber zu den Kindern. Verstehst du das?«
Sie brachte kein Wort heraus.
»Mein Büro ist ein Trümmerfeld. Die Leute, die ich ausgebildet habe, stehlen meine Arbeit und geben meine Ideen als ihre eigenen aus.« Sein Gesichtsausdruck wirkte eher verzweifelt als wütend. »Wenn einer von ihnen eigenständig arbeiten wollte, habe ich ihn ermutigt und ihm einen Platz zur Verfügung gestellt, wo er nach der Arbeit Entwürfe zeichnen konnte. Als ich mit dem Studio anfing, habe ich geschworen, dass ich niemals jemanden für seinen Ehrgeiz bestrafen wollte, so wie ich bei Sullivan gefeuert wurde, weil ich nach der Arbeit weitergearbeitet habe. Aber wir sprechen hier nicht von Ehrgeiz. Sondern von Diebstahl.«
Er sah zu ihr auf. »Ich habe seit einem Jahr keinen Bauplatz mehr besichtigt und keinen ehrlichen Dreck mehr unter den Fingernägeln gehabt. Das verstößt gegen meine Natur«, sagte er leise. »Ich muss bauen. Es ist grotesk – ich sitze hier ineiner italienischen Villa und rede von demokratischer Architektur. Hierzubleiben ist für mich unmöglich.«
»Warum hast du mich dann in dem Glauben gelassen?« Sie spürte, wie Wut in ihr aufstieg.
Frank begann zu weinen. »Ich kann mit mir selbst nicht leben. Ihre Briefe…«
Er sprach von den Briefen seiner Kinder. Sie hatte sie gesehen, und sie unterschieden sich nicht von denen, die sie erhielt – liebevoll hingekritzelte Kinderworte, manchmal falsch buchstabiert. Ich bin sieben Jahre alt, hatte John zuletzt geschrieben. Als ob sie das vergessen hätte.
»Ich habe die gleichen Briefe bekommen«, sagte sie. Sie hasste die Verbitterung in ihrer Stimme.
»Ich wollte ihnen niemals etwas Böses. Ich habe den Klang des Wortes ›Papa‹ immer gehasst. Und jetzt…« Franks Schultern zuckten unter seinen Schluchzern. »Ich dachte, wenn sie nur das Leben sehen könnten, das ich ihnen vorlebte, ein wahrhaftiges Leben, das sich einer Sache verschrieben hat – wäre das das Beste, was ich für sie tun könnte.« Er wischte sich mit dem Daumen eine Träne ab. »Ich hätte mir niemals träumen lassen, dass es so weit kommen könnte.« Ihr ganzer Körper schmerzte vor Wut. Und Scham über diese Wut. »Ich ebenso wenig«, sagte sie.
Mamah schlief kaum in dieser Nacht. Vor Tagesanbruch schlich sie sich auf Zehenspitzen die Treppe hinunter in sein Studio und trat an seinen Zeichentisch. Als sie Franks erste einfache Skizze der italienischen Villa fand, die er unter die detaillierte Version gesteckt hatte, die er ihr gezeigt hatte, zog sie sie aus dem Stapel und legte sie zur Seite.
In zwei Stunden würde Taylor hier sein, um seine letzten Sachen zu holen und aufzubrechen. Sie wollte sich diesen Ort einprägen, bevor Frank mit dem Packen begann, bevordaraus ein in seine Einzelteile zerlegtes Lager wurde. Sie wusste, wo Frank seine Korrespondenz aufbewahrte, in einer Zigarrenkiste in der Ecke. Die Gewissensbisse, die sie beim Lesen seiner Briefe empfand, wurden von der Wut überlagert, die noch immer in ihr kochte.
Beim Durchsuchen der Kiste fand sie keinen Beweis, dass Catherine ihm geschrieben hatte. Mamah vermutete, dass Frank diese Briefe weggeworfen hatte, denn es waren welche angekommen. Doch die Botschaften seiner Kinder hatte er aufgehoben. Und einen Brief seiner Mutter, in dem sie ihrer Sorge Ausdruck verlieh, weil er auf ihre zahlreichen Briefe nicht geantwortet hatte.
Mamahs Blick fiel auf einen weiteren langen Brief eines Geistlichen aus Sewanee, Tennessee, vom 14. Mai 1910. Sie konnte die Unterschrift nicht entziffern, doch der Ton war der eines alten Freundes. Er reagierte auf Franks Bitte um Rat; Punkt für Punkt legte er Frank dar, warum er seine törichte Rebellion mit Mamah aufgeben musste.
Der Geistliche kannte Frank gut genug, um ihm nicht mit der Bibel zu kommen. Stattdessen schien er den Ideen Ellen Keys den Kampf anzusagen, die ihm Frank offenbar brieflich dargelegt hatte. Der Geistliche sprach davon, wie falsch es für ein einzelnes Individuum sei, sich der gesellschaftlichen Ordnung
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