Kein Blick zurueck
bebte vor Zorn. »Warum sagst du nicht ›Du darfst den Glauben nicht verlieren. Wir werden einen Weg finden.‹? Warum kannst du das nicht zu mir sagen?«
Frank strich ihr sanft mit dem Handrücken über die Wange. »Selbstverständlich liebe ich dich. Du weißt, was ich mir für uns wünsche. Aber was kann ich schon versprechen? Ich kehre beinahe bankrott zurück an einen Ort, wo ich geächtet werde. Und weißt du, was das Schlimmste ist? Ich komme beinahe um vor Sorge, dich hier ungeschützt zurückzulassen. Wie willst du dich so ganz auf dich selbst gestellt durchs Leben schlagen?«
»Ellen sagt, sie kennt jemanden in einer Mädchenschule, die mir eine Stelle als Englischlehrerin verschaffen würde.« Ihre verfluchte Enttäuschung verebbte allmählich. »Ich nehme weiter Schwedischunterricht.« Sie versuchte, ihre Stimme munter klingen zu lassen. »Sobald Ellen mich autorisiert, mit The Woman Movement anzufangen, muss ich direkt aus dem Schwedischen übersetzen. Ich habe sie davon überzeugt, dass ich das kann, aber dazu werde ich mich mit Haut und Haaren in die Arbeit stürzen müssen.«
Mamah sah, dass er sich von ihrer vorgespielten Tapferkeit nicht täuschen ließ. »Ich fürchte mich davor, hier allein zu sein«, gab sie zu. »Aber die Wahrheit ist, dass ich mich außerstande fühle, der Regenbogenpresse gegenüberzutreten. Wenn ich zurückkehre, werde ich stärker sein, für alle Beteiligten.«
Beim Frühstück unterhielten sie sich über ihre letzten verbleibendenWochen. Wenn sie sparsam lebten, könnten sie eine kurze Reise durch Österreich und Deutschland unternehmen, vielleicht Wasmuth beim Wort nehmen, der angeboten hatte, ein Treffen mit dem österreichischen Künstler Gustav Klimt in die Wege zu leiten. Auf dem Rückweg in die Staaten würde Frank in England Station machen, um seinen Freund Ashbee zu überreden, ein Vorwort zu dem Bildband zu schreiben, den Wasmuth gerade vorbereitete. Er würde auch Mamahs Übersetzung von The Morality of Woman und Liebe und Ethik zu seinem Freund Ralph Seymour mitnehmen, um zu sehen, ob er sie nicht verlegen wollte.
Er sprach über seine Pläne, das Haus an der Forest Avenue zu unterteilen. Sein Studio wollte er zu einer Wohnung für Catherine und die Kinder umbauen und die andere Hälfte dann vermieten, damit sie ein regelmäßiges Einkommen hätten, das über die Unterhaltssumme hinausging, die er ihnen zahlte. Es würde einige Zeit dauern, die Grundlagen zu schaffen. Doch über kurz oder lang würden er und Mamah ihr eigenes, gemeinsames Zuhause haben können, vielleicht in der Stadt.
Als Taylor ans Tor klopfte, führte Frank ihn in den Garten. Mamah begrüßte ihn und ging dann ins Studio, um die aufgerollte Zeichnung der Villa zu holen. Am frühen Morgen hatte sie sie in das lilienbedruckte Papier eingeschlagen, das Frank am Abend zuvor weggeworfen hatte.
»Darf ich Ihnen das zur Aufbewahrung mitgeben, Taylor?«, fragte sie und drückte ihm die Rolle in die Hand.
Er und Frank sahen verdutzt drein. »Natürlich«, sagte Taylor.
»Eine kleine Erinnerung an unsere Zeit in Italien.« Sie lächelte in sein ernsthaftes Gesicht. »Der Beweis, dass wir es nicht alle geträumt haben. Wenn Sie es für mich aufbewahren, Taylor, dann weiß ich, dass ich Sie wiedersehe.«
Kapitel 29
28. Oktober 1910
Ellen spricht davon, ein »außerordentlich wahrhaftiges Leben zu führen«. Sie sagt, die Moralgesetze seien nicht in Tafeln aus Stein gemeißelt, sondern in solche aus Fleisch und Blut. In einem Jahr bin ich von Oak Park nach Boulder, nach New York, Berlin, Paris, Leipzig, Florenz und wieder nach Berlin gereist. Ich bin müde. Ich möchte niemandes Wahrhaftigkeitstafel sein.
Mamah legte ihr Tagebuch zur Seite und machte sich bereit auszugehen. In ihren Mantel gehüllt, schlich sie sich auf Zehenspitzen über den Flur, an Frau Böhms geschlossener Tür und dem mit schwerem, dunklem Mobiliar vollgestellten Wohnzimmer vorbei, in dem es nach Möbelpolitur roch, und trat aus der Tür der Pension Gottschalk. Auf der Straße schlang sie sich gegen die Oktoberkälte einen Schal um den Hals, ging bis zur nächsten Kreuzung und wandte sich dort nach rechts in Richtung der Wilmersdorfer Polizeiwache. Jeder, der sich länger als zwei Wochen in Berlin aufhielt, musste sich bei der Polizei melden. Inzwischen war es dafür schon spät, und sie ärgerte sich, dass sie möglicherweise eine Stunde würde warten müssen.
»Mama – « Der Wachtmeister stolperte über ihren
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