Kein böser Traum
›Abstand‹?«
»Mr. Duncan, ich wüsste gern, wie Sie auf dieses Bild gestoßen sind. Und vor allem, wie Sie mich ausfindig machen konnten.«
»Sie haben dieses Foto als Spam-Post verschickt. Jemand hat das Foto erkannt und es an mich weitergeleitet. Ich habe den Absender zurückverfolgt und ihn ein bisschen unter Druck gesetzt.«
»Ist das der Grund, weshalb wir keine Antworten bekommen haben?«
Duncan nickte. »Ich wollte zuerst mit Ihnen reden.«
»Ich habe Ihnen alles gesagt, was ich weiß. Ich wollte gerade den Kerl im Fotoladen zur Rede stellen, als Sie aufgetaucht sind.«
»Den knöpfen wir uns noch vor. Keine Angst.«
Er konnte den Blick nicht von dem Foto wenden. Geredet hatte nur sie. Alles, was sie von ihm erfahren hatte, war, dass diese Blondine seine Schwester war. Grace deutete auf das Gesicht mit dem X. »Erzählen Sie mir von ihr.«
»Sie hieß Geri. Sagt Ihnen der Name was?«
»Tut mir Leid. Nein.«
»Ihr Mann hat sie nie erwähnt? Geri Duncan.«
»Nicht dass ich wüsste.« Dann: »Sie sagten ›hieß‹.«
»Wie?«
»Sie sagten, sie hieß Geri.«
Duncan nickte. »Sie ist mit einundzwanzig bei einem Brand ums Leben gekommen. In ihrem Zimmer im Studentenheim.«
Grace erstarrte. »Dann hat sie an der Tufts University studiert, stimmt’s?«
»Ja. Woher wissen Sie das?«
Jetzt ergab das alles einen Sinn – warum ihr das Gesicht des Mädchens bekannt vorgekommen war. Grace hatte sie nicht gekannt, aber damals war ihr Bild in den Zeitungen erschienen. Grace war damals in physiotherapeutischer Behandlung gewesen und hatte zu viele Illustrierte gelesen. »Ich erinnere mich, davon gelesen zu haben. War das nicht ein Unfall? Kurzschluss oder so?«
»Das habe ich immer geglaubt. Bis vor drei Monaten.«
»Was ist passiert?«
»Die Staatsanwaltschaft hat einen Mann verhaftet, der sich Monte Scanlon nennt. Ein Auftragskiller. Er hat dafür gesorgt, dass es wie ein Unfall aussah.«
Grace versuchte das zu verarbeiten. »Und davon haben Sie erst vor drei Monaten erfahren?«
»Ja.«
»Haben Sie Nachforschungen angestellt?«
»Ich bin immer noch dabei. Aber inzwischen sind Jahre vergangen.« Seine Stimme klang jetzt weicher. »Sind nicht mehr viele Spuren zu finden – nach all der Zeit.«
Grace wandte sich ab.
»Ich habe herausgefunden, dass Geri zu diesem Zeitpunkt mit einem Jungen befreundet war – einem Ortsansässigen namens Shane Alworth. Sagt Ihnen der Name was?«
»Nein.«
»Sicher nicht?«
»Ziemlich sicher nicht.«
»Er war vorbestraft. Nichts Ernstes. Aber ich habe ihn überprüft.«
»Und?«
»Er ist verschwunden.«
»Verschwunden?«
»Keine Spur von ihm. Ich kann keine Arbeitspapiere von ihm finden. Ich kann nicht den Schimmer eines Shane Alworth im Steuerzahlerregister entdecken. Es gibt keine Sozialversicherungsnummer für seinen Namen.«
»Und wie lange schon?«
»Sie meinen, seit wann er verschwunden ist?«
»Ja.«
»Ich habe die letzten zehn Jahre überprüft. Nichts.« Duncan griff in seine Jacketttasche und zog ein weiteres Foto heraus. Er gab es Grace. »Erkennen Sie ihn?«
Sie betrachtete das Bild eingehend. Da bestand kein Zweifel. Es war der andere Junge auf ihrem Foto. Sie sah auf. Duncan nickte.
»Unheimlich, was?«
»Woher haben Sie das Foto?«, fragte sie.
»Von Shane Alworth’ Mutter. Sie behauptet, ihr Sohn lebe in einer kleinen Stadt in Mexiko. Angeblich ist er Missionar oder so ähnlich und deshalb hier nirgendwo registriert. Shane hat noch einen Bruder in St. Louis, der als Psychologe arbeitet. Er bestätigt die Aussagen der Mutter.«
»Aber Sie kaufen den beiden das nicht ab?«
»Sie vielleicht?«
Grace legte das Foto auf den Tisch. »Wir kennen jetzt drei Personen auf diesem Bild«, sagte sie mehr zu sich selbst. »Da ist Ihre Schwester, die ermordet wurde. Ihr Freund Shane Alworth, der verschwunden ist. Und mein Mann, der unmittelbar nachdem er das Foto gesehen hatte, fortgefahren ist, ohne zu sagen, wohin. Stimmt das so ungefähr?«
»Ja, das stimmt.«
»Was hat Shanes Mutter sonst noch gesagt?«
»Dass man ihn nicht erreichen kann. Er sei irgendwo am Amazonas im Dschungel, glaubt sie.«
»Dschungel? Amazonas? Mexiko?«
»Ihr Geographie-Verständnis ist ziemlich wirr.«
Grace schüttelte den Kopf und deutete auf das Foto. »Bleiben also noch die anderen beiden Frauen. Irgendein Hinweis, wer sie sind?«
»Nein. Noch nicht. Ich habe Geris Leiche exhumieren lassen. Das hat Zeit gekostet. Außerdem wird eine umfassende
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